Würde – unser Kompass im Leben
Gerald Hüther im Interview mit Abenteuer Philosophie
Wie schätzen Sie als Neurobiologe die momentane Lage unserer Welt/Gesellschaft ein?
Was wir gegenwärtig weltweit erleben, sind in meinen Augen und mit viel Abstand aus neurobiologischer Perspektive betrachtet, immer deutlicher zutage tretende Anzeichen eines tiefgreifenden Transformationsprozesses, der inzwischen alle Bereiche unseres Zusammenlebens und damit auch das Denken, Fühlen und Handeln der meisten Menschen erfasst hat. Immer deutlicher tritt nun vieles an sozialen Unzulänglichkeiten und Wiedersprüchen zutage, was bisher in dieser Weise weder offen sichtbar noch hinreichend spürbar gewesen ist. Ratlosigkeit und Verunsicherung breiten sich deshalb aus. Vielen ist klar, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, aber niemand weiß, wie es anders, wie es besser werden kann. Manche fordern eine Wiederherstellung der alten Ordnung. Manchen hoffen auf neue Lösungen durch wissenschaftlich-technische Innovationen. Die meisten aber versuchen, diesen Zustand einfach nur auszuhalten. Sie reden sich gegenseitig ein, es sei doch alles in Ordnung und bemühen sich darum, selbst möglichst gut durchzukommen.
Aber mit der Beschreibung dieser gegenwärtigen Lage kommen wir nicht weiter. Wir müssten verstehen, wie und weshalb sie entstanden ist. Meine Erklärung lautet: Die tieferliegende Ursache dieser allgemeinen Verunsicherung ist die fortschreitende Auflösung der unser Zusammenleben über Jahrtausende hinweg bestimmenden hierarchischen Ordnungsstrukturen. Sie haben uns in die Lage versetzt, vielfältige äußere Bedrohungen abzuwenden und als soziale Gemeinschaften zu überleben. Die allen Hierarchien innewohnenden Aufstiegsbestrebungen ihrer Mitglieder führte aber auch zu besonderen Leistungen in Form vielfältiger wissenschaftlich-technischer und kultureller Innovationen.
Als zwangsläufige Folge dieser vielen kleinen und großen Fortschritte entstand eine zunehmend komplexer werdende Lebenswelt. Inzwischen sind wir im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung angekommen und müssen nun erleben, dass sich unser Zusammenleben in dieser hochkomplex gewordenen Welt nicht mehr mit Hilfe der bisher bewährten hierarchischen Ordnungsstrukturen steuern lässt. Das alte Ordnungsprinzip, in dem sich Menschen als Einzelne oder als widerstreitende Interessengruppen gegenseitig zu Objekten ihrer jeweiligen Absichten und Ziele gemacht haben, funktioniert nicht mehr, und ein neues soziales Ordnungsprinzip ist nicht in Sicht. Aber ohne ein ihr Zusammenleben ordnendes Prinzip zerfällt jede Gemeinschaft. Und als Einzelwesen können wir nicht überleben, geschweige denn, uns weiterentwickeln.
Was schlagen Sie als philosophisch-praktische Lösung vor?
Die bisher im Rahmen dieser hierarchischen Ordnungsstrukturen gemachten Erfahrungen sind tief in unseren Gehirnen verankert und bestimmen als innere Einstellungen und Haltungen das Denken, Fühlen und Handeln der meisten Menschen. Verändern können sich diese alten eingeprägten Muster nur durch günstigere Erfahrungen eines gelingenden Miteinanders. Möglich wird das immer dann, wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft ein gemeinsames Anliegen verfolgen, das allen gleichermaßen bedeutsam ist, ihnen also allen am Herzen liegt. Dann beginnen die Mitglieder dieser Gemeinschaften einander als Subjekte zu begegnen anstatt sich gegenseitig zu Objekten ihrer Absichten, Erwartungen, Bewertungen etc. zu machen. Nur unter diesen Bedingungen entstehen die erforderlichen Spielräume für co-kreative Entwicklungen.
Ihr neuestes Buch haben Sie dem Thema Würde gewidmet. Wie definieren Sie diesen Begriff?
Wer sich seiner eigenen Würde bewusst geworden ist, stellt sich nicht länger anderen als Objekt zur Verfügung. Und er benutzt auch keine andere Person wie ein Objekt, macht also niemand zum Objekt seiner eigenen Interessen, Erwartungen, Bewertungen oder gar Maßnahmen. Genau darum, also um die Bewusstwerdung der eigenen Würde geht es in diesem Buch. Auch darum, wie es gelingen kann, sich seiner eigenen Würde bewusst zu werden. Es kommt ja niemand schon mit einer Vorstellung seiner eigenen Würde zur Welt. Heranwachsende können sich nur durch eigene günstige Erfahrungen in der Beziehung zu anderen als Teil ihres Selbstbildes entwickeln. Die Vorstellung oder das Bewusstsein der eigenen Würde ist also eine Art innerer Kompass, der Menschen hilft, ihr Leben und ihr Zusammenleben so zu gestalten, dass es für alle gut ist – dass eine gemeinsame Weiterentwicklung ermöglicht wird.
Wenn es im Grundgesetz heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, bringt das nur zum Ausdruck, dass die Würde etwas ist, das jeder Mensch (gottgegeben) besitzt. Aber wie soll jemand, der würdelos handelt oder würdelos behandelt wird, seine Würde wahren, wenn er sich ihrer gar nicht bewusst ist?
Wie können wir Würde in der Praxis umsetzen?
Ich denke, es kommt zunächst erst einmal darauf an, dieses Thema der Wahrung der eigenen Würde zu einem Gegenstand öffentlicher Diskussion zu machen. Deshalb haben wir in der Akademie für Potentialentfaltung die Initiative „Würdekompass“ gestartet. Mit ihrer Hilfe sollen in Städten und Gemeinden möglichst viele Würdekompass-Gruppen entstehen, die nach Möglichkeiten und Wegen für ein würdevolleres Zusammenleben der Menschen vor Ort suchen. (siehe Kasten).
Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?
Wenn das bisherige soziale Ordnungssystem der Hierarchie zerfällt, bleibt eigentlich keine andere Lösung zur Aufrechterhaltung eines geordneten Zusammenlebens mehr übrig als die Herausbildung und Stärkung eines inneren Kompasses in jedem einzelnen Menschen. Der sollte ihm helfen, sein eigenes Leben und sein Zusammenleben mit anderen so zu gestalten, dass es für alle fruchtbar wird und die Weiterentwicklung aller ermöglicht. Der brauchbarste Begriff, den ich für diesen inneren Kompass gefunden habe, ist der unserer eigenen Würde.
Wenn es eine Sache gibt, die Sie ändern könnten, welche wäre das?
Man kann ja nichts wirklich verändern, außer sich selbst. Aber wir alle können dazu beitragen, Erfahrungsräume und Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer es hochwahrscheinlich wird, dass sich auch andere Menschen dazu entschließen, sich weiterzuentwickeln.
Mit dem Würde-Buch, dem Würde-Aufruf und der Würdekompass-Initiative versuche ich genau das: ein Umfeld zu schaffen, das möglichst viele Menschen auf die Idee bringt, sich zu fragen, ob das, was sie tagtäglich tun, mit ihrer Würde vereinbar ist. Ob das gelingt, weiß ich nicht. Aber zumindest versuchen wollte ich es schon.
Gerald Hüther
Gerald Hüther (*1951 in Emleben) zählt zu den bekanntesten Hirnforschern Deutschlands. Praktisch befasst er sich im Rahmen verschiedener Initiativen und Projekte mit neurobiologischer Präventionsforschung. Er schreibt Sachbücher, hält Vorträge, organisiert Kongresse, arbeitet als Berater für Politiker und Unternehmer und ist häufiger Gesprächsgast in Rundfunk und Fernsehen. So ist er Wissensvermittler und –umsetzer in einer Person.
Studiert und geforscht hat er in Leipzig und Jena, dann seit 1979 am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen. Er war Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von 2004 – 2016 als Prof. für Neurobiologie an der Universität Göttingen beschäftigt. 1994-2006 leitete er eine von ihm aufgebaute Forschungsabteilung an der psychiatrischen Klinik in Göttingen. 2006 – 2016 befasste er sich mit der Verbreitung von Erkenntnissen auf dem Gebiet der Neurobiologischen Präventionsforschung. 2015 Gründung der Akademie für Potentialentfaltung und Übernahme ihrer Leitung als Vorstand.In seiner Öffentlichkeitsarbeit geht es ihm um die Verbreitung und Umsetzung von Erkenntnissen aus der modernen Hirnforschung. Er versteht sich als „Brückenbauer“ zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlicher bzw. individueller Lebenspraxis. Ziel seiner Aktivitäten ist die Schaffung günstigerer Voraussetzungen für die Entfaltung menschlicher Potentiale.
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