Wer bin ich?
Meine Suche nach Identität
Im Zeitalter der Anonymität im World Wide Web, der Avatare und des Gender-Swapping haben wir Gelegenheit, vielfältige Rollen zu probieren, sie nach Belieben zu genießen, zu wechseln – und – wieder zu verwerfen. Gleichzeitig wird dadurch die Frage drängender, wer wir wirklich sind und ob es so etwas wie Sinn und Bedeutung in unserem Leben gibt.
Einer meiner Freunde ist beruflich erfolgreich und beliebt als Sozialpädagoge. Abends im Chatroom knüpft er als Sandra92 Freundschaften. Bei World of Warcraft ist sein Avatar ein kleiner knuffiger Zwerg, der es ganz schön drauf hat und derbe Flüche von sich gibt. Außerdem diskutiert und arbeitet er bei Wikipedia mit. Unter dem Pseudonym Brainbooster gilt er als intelligenter und korrekter Mitarbeiter. Es macht ihm Spaß, in diese Rollen zu schlüpfen. Gleichzeitig stellt sich ihm auch die Frage, wer er eigentlich ist – was ist seine Identität?
Tugenden als Weg zur Identität
Aus philosophischer Sicht bringt uns der Begriff Identität einer Lösung näher. Gibt es in diesen Rollen etwas, was „identisch“ bleibt, was sich nicht ändert? In der Bhagavad Gita (Kasten) heißt es dazu: Dein Sinnenleben ist’s allein, dass dich mit Stofflichem verbindet. Kurz ist’s und wechselnd, trag es mit Geduld. Die in sich selbst erstarkte Menschenseele, die über diese Dinge sich erhebt, in Freud und Leid sich gleich und ruhig bleibt, besteht in Ewigkeit.
Die indische Naturphilosophie empfiehlt uns, die äußere Erscheinungswelt mit ihren ständigen Veränderungen als etwas Illusorisches zu betrachten und uns im Leben mehr auf die beständigen Dinge zu konzentrieren. Gemeint sind damit überzeitliche Werte wie Liebe, Freundschaft, Mut und Gerechtigkeit. In der praktischen Anwendung geht es darum, diese Werte in sein Leben zu integrieren, sich also liebevoll, loyal, mutig und gerecht zu verhalten. Und zwar unabhängig davon, ob man dafür gelobt oder belohnt – oder gar getadelt oder verhöhnt wird. Die römischen Stoiker nannten solche Fähigkeiten virtutes (dt. Tugenden). Genau diese Tugenden galten schon Sokrates und Platon als unsere besten (inneren) Verbündeten. Sie sind wirkliche „innere Mächte“ und wer sie erobert, wird ausgeglichen, glücklich und hat echte und gute Freunde. Da sie „Bestandteil“ unserer unsterblichen Seele sind, erobern wir damit auch unsere Identität.
Wir sind das, womit wir uns identifizieren
Der Begriff Identität führt uns philosophisch noch auf eine zweite Spur, da er mit dem Wort Identifikation verwandt ist. Bei all den Möglichkeiten unterschiedlicher Rollen, die wir im Leben spielen, bildet sich unsere Identität durch das, womit wir uns identifizieren. Üben wir die Identifikation mit Vergänglichem, mit egoistischem schnellem und kurzem Vergnügen wie einer guten Mahlzeit, einem actionreichen Computerspiel oder einer Fernseh-Soap, mit der wir (uns) die Zeit „vertreiben“, bleiben wir ein oberflächlicher Mensch, hinterlassen keine Spuren und sind daher auch vergänglich – und – bald vergessen.
Ein Unseliger,
der nur kreist um sich selbst,
im Leben wird er dem Ruhme nachsehen
und doppelt sterbend untergehen,
im gemeinen Staub aus dem er entsprungen,
unbeweint, ungeehrt und unbesungen.“
Sir Walter Scott
Identität und Sinn
Dieser Spur folgend können wir auch eine Tür zur Frage nach dem Sinn öffnen. Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, meinte dazu: „Um uns selbst zu finden, müssen wir uns selbst überschreiten.“ Es klingt nach Widerspruch, dass wir uns verlieren sollen, um uns zu entdecken. Frankl wollte damit erklären, dass es gut sei, ein Ideal, ein bedeutendes Ziel außerhalb unserer egoistischen Wünsche zu verfolgen, damit wir uns selbst finden – und – dadurch Sinn erleben können Wer sich mit einem Ideal identifiziert und sich ihm hingibt, kann also seine Identität viel leichter finden und Sinn und Bedeutung erleben.
Dazu eine Geschichte: Ein virtuoser Geiger gab in einer Stadt ein Konzert. Am Ende desselben folgte ein tosender, nicht enden wollender Applaus. Nachdem der Virtuose sich nach einigen Zugaben doch in die Garderobe zurückgezogen hat, klopfte es an der Tür – ein treuer Fan bat um ein Autogramm. Der Künstler schrieb gerade seine Widmung, als der Fan meinte: „Vielen Dank. Sie wissen gar nicht, was mir das bedeutet. Ich würde mein Leben dafür hingeben, wenn ich so Geige spielen könnte wie Sie.“ Darauf antwortete unser Geiger: „Wissen Sie – genau das habe ich getan.“
Was für eine schöne Anregung, um sich selbst auf die Suche zu begeben.
Info:
Die Bhagavad Gita ist eine mystisch-philosophische Schrift und Hindus betrachten ihre Lehren traditionell als Quintessenz der Veden. In diesem Werk formuliert Krishna für den Helden Arjuna die Quintessenz der Weisheitslehren der östlichen Naturphilosophie. Dieses Werk inspirierte nicht nur Mahatma Gandhi, sondern auch im Westen zahlreiche Philosophen und Poeten wie Arthur Schopenhauer, Johann Wolfgang Goethe, Alexander Humboldt, Hermann Hesse.
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