Unsere Fesseln – und wie wir sie loswerden

Unsere Fesseln – und wie wir sie loswerden

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With a Little Help from My Friend Platon

Wir sitzen in der Falle. Oder wie Platon (Athen 427 – 348/347 v. Chr.) sagt: in einer Höhle. Angekettet. Die Frage ist nun: Wer hat uns die Ketten angelegt, und wie werden wir sie wieder los?

Als eifrige Leser von „abenteuer philosophie“ kennen Sie natürlich Platons Höhlengleichnis, einen der grundlegenden Texte der westlichen Geistesgeschichte. Er ist Teil seines Buches „Politeia/Der Staat“. Ich fasse den Text noch einmal kurz zusammen: Menschen sitzen in einer dunklen Höhle, an Füßen und am Hals so angekettet, dass sie sich nicht bewegen können. Hinter ihnen brennt ein Feuer, vor dem Figuren vorbeigetragen werden. An der Höhlenwand, die die Angeketteten allein im Blick haben, erscheinen diese Figuren als bewegliche Schatten. Für die Menschen in der Höhle sind diese Schatten die Wirklichkeit. Durch die Ketten daran gehindert, sich umzudrehen, ist das die einzige Wirklichkeit, die sie kennen.

Zwei Fragen stellen sich. Die Antwort auf die erste Frage, wer diese bemitleidenswerten Troglodyten (Höhlenbewohner) denn sind, ist einfach: wir. Platon spricht von uns. Damit meine ich nicht die Menschen oder gar die globale Situation des 21. Jahrhunderts, die die Apokalyptiker so gerne als Zeichen des bevorstehenden Weltuntergangs deuten, sondern den grundlegenden Zustand der Menschen zu allen Zeiten. Wer aber hat uns die Ketten angelegt? Auch die Antwort auf diese Frage ist kurz und einfach: wir selbst. Sie bedarf jedoch einer längeren Erklärung.

Wir müssen uns die Höhlenbewohner als glückliche Menschen vorstellen, um einen Satz von Albert Camus zu paraphrasieren. Obwohl Platon darauf nicht eingeht, wird in der Höhle für alle leiblichen Bedürfnisse gesorgt sein. Der kontinuierliche Ablauf der beweglichen Bilder vor unseren Augen – ich verwende ab jetzt die erste Person Plural, um es ganz deutlich zu machen, dass wir von uns sprechen – sorgt für Unterhaltung. Brot und Spiele eben, das alte Lied. So hält man die Menschen ruhig und dumm. Dass wir angekettet sind, bedeutet auch, dass wir einander nicht wirklich berühren können, dass kein Austausch und keine Beziehung möglich sind, obwohl uns die volle Höhle Gemeinschaft vorgaukelt. Es gibt aber auch keinen Rückzugsort, kein Alleinsein, keine Möglichkeit, die eigene Situation in Ruhe zu überdenken. Das Bewusstsein der existenziellen Einsamkeit soll gar nicht erst aufkommen.

Es gibt nur ein Gebot: Du sollst keinen Gott haben außer DICH SELBST. Nie war die Selbstbezogenheit größer als heute.

Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten (Rousseau, „Contrat social“)

Das Erschreckendste an dieser Allegorie, die im Grunde eine illusionslose Zustandsanalyse ist, ist die Tatsache, dass jeder für sich allein angekettet ist. Wir schließen die Augen davor, dass wir alle in derselben Lage sind.

In den sozialistischen Ländern gab es überall Standbilder, die muskelbepackte Männer darstellten, wie sie die Ketten des Kapitalismus und der Unterdrückung sprengten. Das ist nicht falsch, aber das Problem liegt tiefer. Solange wir glauben, dass uns irgendeine äußere Macht in Ketten geschlagen hat, werden wir nur eine Art von Fesseln durch eine andere Art ersetzen. Mit der äußeren Macht meine ich nicht nur eine politische Macht, es kann auch eine religiöse, spirituelle, philosophische oder weltanschauliche „Macht“ sein, darunter die am weitesten verbreitete, nämlich der Zwang, aus diesem Leben so viel wie möglich für sich selbst herauszupressen, ohne Rücksicht auf die Mitwelt.

Genau hier verorte ich (zu diesem Zeitpunkt meines Verständnisses) die Ursache unserer Gefangenschaft. ICH bin die Sonne, um die sich alles dreht. Alle Entscheidungen beurteile ich danach, ob sie MIR nützlich sind (bei politischen Wahlen eine äußerst gefährliche Haltung.) Andere Menschen, Tiere, die gesamte Natur sind nur Staffage und dazu da, ausgebeutet zu werden zur höheren Ehre meines ICH. Es gibt nur ein Gebot: Du sollst keinen Gott haben außer DICH SELBST. Nie war die Selbstbezogenheit größer als heute.

Natürlich neigen Menschen zur Selbstbezogenheit, und vielleicht ist das in einem frühen Stadium der Entwicklung sogar notwendig, so wie es notwendig ist, dass ein Kind „ich“ sagen lernt. Wenn der Mensch aber in diesem Stadium verharrt, zeigt dies seine psychologische Unreife, die sich verheerend auswirkt, nicht zuletzt auf das Subjekt selbst. Das, ohne es zu merken, zu einem in Ketten geschlagenen Objekt geworden ist. Wie so oft ist auch hier die Etymologie entlarvend: Subjekt leitet sich vom Lateinischen „subiectum“ ab, das sich wieder aus „sub“ (unter) und  „iacere“ (werfen)  zusammensetzt. Ein Subjekt ist schon von der Etymologie her jemand, der sich unterordnet (während das Objekt ein Gegenstand ist, man könnte auch sagen, ein Spielball). In unserem Kontext bedeutet das, dass ich mich, d.h. die Ausrichtung meines Lebens, etwas Höherem und Bedeutenderem, als ich es selbst bin, unterordne. Wieder: Es kann ein Gott, wie auch immer definiert, eine spirituelle oder philosophische Tradition sein, auch eine atheistische „innerweltliche“ Überzeugung, dass das Leben auf dieser Erde – für alle und alles – verbessert werden muss und ich mich deshalb dafür einsetze. Kurz: Es muss etwas sein, das mich von mir selbst erlöst, das meinen Blick, der immer nur auf mich selbst gerichtet war, weitet. Plötzlich kann ich mich umdrehen, die selbstauferlegten Ketten sind gefallen, und ich sehe, dass das, was ich für die Wirklichkeit gehalten habe, nur Schatten von Schatten sind. Platon nennt das die Umwendung der Seele (psyches periagoge).

Freiheit bedeutet, eigene Entscheidungen zu treffen. Um ein eigenes Urteil über die Ausrichtung meines Lebens fällen zu können, braucht es Gedankenarbeit.

Die Freiheit macht den Menschen Angst

Wir sind in Wirklichkeit schon immer frei. Das sagt der Buddhismus („Alle Wesen haben die Buddha-Natur“), das Christentum („Wir sind alle Kinder Gottes“) und das sagt auch Jean-Paul Sartre (französischer Philosoph, 1905 – 1980), neben vielen anderen. Er sagt aber auch – und ich denke, hierin stimmt er mit Platon überein –, dass die Menschen Angst vor der Freiheit haben. Freiheit bedeutet, eigene Entscheidungen zu treffen. Um ein eigenes Urteil über die Ausrichtung meines Lebens fällen zu können, braucht es Gedankenarbeit. Steht das Ergebnis fest, beginnt die Arbeit jedoch erst, denn wenn es wirklich eine Entscheidung ist, muss sie in die Tat umgesetzt werden. Wir sprechen hier von der Entscheidung, die erste Stelle freizumachen für etwas Bedeutsameres als mich selbst. Es tut mir leid, dass ich so darauf herumhacke, aber ich glaube, der Fan-Klub eines Fußballvereins tut es nicht. Da es in Zukunft der Kompass meines Handelns sein soll, stelle ich mir etwas vor wie das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethe, Faust). Ich wähle diese vage Formulierung, weil die Ausformung jedem und jeder selbst überlassen bleibt. Das kann anstrengend, ungemütlich, manchmal auch gefährlich werden. Wir haben erkannt, dass wir nicht die Sonne sind, nur der Mond, der nicht selbst leuchtet, sondern sein Licht von der Sonne empfängt.

Nach dem anstrengenden Aufstieg aus der Höhle steht man doch endlich, zuerst noch geblendet aber überwältigt, im Licht

Wie geht Platons Geschichte aus? Ein Gefangener ist frei, sich umzudrehen und zu gehen. Er erkennt nicht nur den Betrug, dem er so lange aufgesessen ist, er sieht auch den offenen Ausgang. Was macht er? Jubelt er? Ruft er seinen Mithäftlingen zu: „Brüder zur Sonne, zur Freiheit!“, und stürmt voran? Keineswegs. Hier weiß man ja, was man hat, dort ist alles ungewiss. Außerdem ist der Aufstieg aus der Höhle anstrengend. Schließlich macht er sich doch auf und steht endlich, zuerst noch geblendet und völlig überwältigt, im Licht.

Es gibt keine Falle. Stehen wir einfach auf und verlassen die Höhle! Der Preis für die Aufgabe der Selbstbezogenheit und die Mühen des Aufstiegs: grenzenlose Weite und die strahlende Helle der Wirklichkeit.

P.S. Das Höhlengleichnis von Platon beschäftigt denkende Menschen nicht umsonst seit mehr als zweitausend Jahren. Der vorangehende Text ist – bestenfalls – eine der vielen möglichen Herangehensweisen.


SOPHIE VON ALLERSLEBEN liebt es, sich in ganz besondere Themen, meist jenseits des Mainstreams, zu vertiefen, vor Ort zu recherchieren und ihre inneren und äußeren Reisen mit den Lesenden zu teilen. Sie freut sich immer auf Rückmeldungen und weiterführende Anregungen

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