MeToo in der Malerei der Renaissance
#
MeToo ist ein Hashtag, das seit Mitte Oktober 2017 Verbreitung in den sozialen Netzwerken erfährt. Die Phrase „Me too“ (deutsch „ich auch“) will ermutigen, auf sexuelle Übergriffe aufmerksam zu machen. Der Begriff ist neu, das Thema leider nicht und die Art und Weise, wie es aufgezeigt wird, sehr unterschiedlich …
Es ist ein abgekartetes Spiel. Die Palasttüren stehen unbewacht, als sich die Täter unbemerkt in den Garten schleichen und hinter einem Gebüsch verstecken. Wie jeden Abend kommt die Herrin des Hauses, um ihr Bad zu nehmen. Es ist Susanna, eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit, Gattin des reichen jüdischen Kaufmanns Jojakim. Kaum ist sie entkleidet, versperren ihr die beiden Täter den Weg. Sie versuchen, sie zum Geschlechtsverkehr zu zwingen. Sie drohen ihr, sie würden Anklage wegen Ehebruchs gegen sie erheben, sollte sie nicht einwilligen. Die beiden sind Richter und Mitglieder des Ältestenrates. Susanna aber setzt sich heftig zur Wehr und schüttelt die Täter ab. Sie wird vor Gericht gestellt. Weil aber ihre Gegner hochgestellte Persönlichkeiten sind, glaubt man ihr nicht und verurteilt sie zum Tode wegen Ehebruchs. Kurz vor der Exekution tritt ein Junge mit Namen Daniel auf den Plan. Er wirft dem Gericht unverantwortliches Verhalten vor und verlangt handfeste Beweise. Als er aufgefordert wird, selbst die Angeklagten zu befragen, verhört er sie getrennt. Da fliegt der ganze Schwindel auf, Susanna wird freigesprochen und die beiden Übeltäter werden zum Tode verurteilt.
Die Geschichte stammt aus dem Buch Daniel im Alten Testament. Das Thema von „MeToo“ ist offenbar so alt wie die Menschheit. In dieser Version hat sie über viele Generationen die Gemüter bewegt und zahlreiche Künstler inspiriert.
Mitte des vierzehnten bis ins fünfzehnte Jahrhundert hinein war es um die Moral des Klerus schlecht bestellt. Bischöfe, Prälaten und Pfaffen, ja die ganze Kurie hurten und prassten, als gäbe es kein Recht, keine Religion und keine Moral. So ist es kein Wunder, dass sie unter den Gläubigen der damaligen Zeit jede moralische Autorität verloren hatten. Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts war es der Florentiner Bankier Cosimo de Medici, der auf den Rat eines Gelehrten aus Konstantinopel, Gemistus Plethon, eine Platonische Akademie wieder gründete und so den entscheidenden Impuls für die Geburt der Renaissance gab. Alle Dialoge Platons wurden aus dem Griechischen übersetzt und über den eben erst erfundenen Buchdruck erfuhren sie innerhalb weniger Jahre eine Verbreitung nie gekannten Ausmaßes. Die Idee der inneren Bildung und Entwicklung, die es jedem Menschen ermöglicht, Großes zu vollbringen, eigenständig und unabhängig von der Autorität der Kirche, erfasste Gelehrte und Künstler in ganz Europa. Tugenden wie Wahrheit und Gerechtigkeit wurden wieder wichtig.
Bilder und Gemälde dienten nicht mehr nur der frommen Andacht und religiösen Versenkung wie im Mittelalter, sondern waren unmittelbarer Ausdruck des neuen Zeitgeistes.
In seinem Bild „Susanna im Bade“ hat der Regensburger Renaissance-Maler Albrecht Altdorfer das Sujet auf seine Weise aufgegriffen. Das Bild jedoch nur als Anspielung auf die Verdorbenheit des Klerus der damaligen Zeit zu sehen, wäre aber zu kurz gegriffen. Zu sehen ist ein großes imposantes Gebäude mit mehreren Stockwerken in einem blumenreichen Garten. Die offenen Hallen des Gebäudes sind mit einer großen Schar Menschen bevölkert, die dort offenbar lustwandeln, auch ein Springbrunnen ist zu sehen. Auf einer großen Terrasse sieht man Zuschauer, die einer Vorführung beiwohnen. Erst bei genauem Hinsehen erweist es sich als Autodafé, bei dem kaum erkennbar Menschen auf dem Boden liegen und andere Steine in die Höhe recken. Im Garten lässt sich derweil eine halb bekleidete Susanna von ihren Zofen die Haare kämmen. Hinter einem Busch versteckt sieht man zwei finstere Gestalten hervorlugen.
Das ganze Bild vermittelt den Eindruck von großer Harmonie, von gediegener Schönheit und großer Ruhe.
Auffallend sind der Detailreichtum und der Prunk des Gebäudes. Es hat viele hohe helle Fenster, offene Durchgänge und Balkone, auf denen überall Menschen zu sehen sind. Das Anwesen befindet sich auf einem Berg, im Hintergrund sieht man ein Gewässer blitzen. Die Stadt auf dem Berg, von Wasser umgeben, ist ein Topos aus dem Dialog Timaios von Platon. Er repräsentiert die Insel Atlantis, die als Symbol steht für die ideale Gesellschaft.
Interessanterweise fehlt ein wichtiges Detail auf diesem Bild – im Grunde das entscheidende: nämlich der Akt der versuchten Vergewaltigung. Die gesamte Szene gliedert sich in ein Davor und ein Danach: Die lauernden Übeltäter und Susanna beim Bade – und deren gerechte Strafe nach der versuchten Gewalttat. Wie kann das sein?
Einer der wesentlichen Philosophen der Renaissance in Florenz ist Pico della Mirandola. Nach seiner Philosophie geschieht eine Erneuerung des Menschen nur durch den Frieden und für den Frieden. Das gilt auch für die Gesellschaft als Ganzes. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Bildsprache von Albrecht Altdorfer sinnvoll übersetzen:
Das prachtvolle Gebäude mit seinen lustwandelnden Menschen wäre demnach eine Vision der idealen Gesellschaft. Die Gesellschaft ist jedoch nicht ideal, weil die Menschen es sein müssten. Übeltäter gibt es ja auch da. Doch weil sie überführt werden und ihre gerechte Strafe bekommen, weil die Ehre der Susanna wiederhergestellt ist, handelt es sich um eine erneuerte, ideale Gesellschaft, in der alle Menschen in Frieden und Wohlstand leben können.
Gut hundert Jahre später, von 1618 bis 1648, tobt der Dreißigjährige Krieg in Europa. Ganze Landstriche werden verwüstet und entvölkert. Die Erfahrung von brutaler Gewalt beherrscht die Menschen. Auch Antonis van Dyck, ein großer niederländischer Maler, interessiert sich für das Sujet von Susanna im Bade und malt 1621 seine Version der Geschichte. In seinem Bild vermittelt er die Lüsternheit und Übergriffigkeit der beiden Unholde und die Verletzlichkeit und das blanke Entsetzen von Susanna sehr eindeutig und unmittelbar. Es entstand rund hundert Jahre nach dem Bild von Albrecht Altdorfer und steht im krassen Gegensatz dazu. Es scheint, als hätte sich die hässliche Wirklichkeit von „MeToo“ wieder ins Bewusstsein gedrängt. Eine kollektive Erfahrung, die offenbar bis zum heutigen Tag anhält … Aber die Botschaft ist klar: Sehen wir „nur“ das Hässliche und den Schmerz, oder verstehen wir das Schlechte als dringenden Auftrag an uns alle, an einer besseren Welt zu bauen.
Hat dir dieser Artikel gefallen?
Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.