Die Kunst der Bescheidenheit
Das I Ging und die Charakterbildung
Gute Umgangsformen sind zeitlos. Hier geht es um einen 3000 Jahre alten „Knigge“ der chinesischen Hochkultur und warum sich ein Berg in der Erde verbergen soll?
Das I Ging ist ein Weisheitsbuch Chinas. Das 15. Hexagramm darin heißt KIEN – die Bescheidenheit. In der Ausgabe Nr. 176 wurde das Hexagramm LÜ, das Auftreten, behandelt. Wenn LÜ das Fundament des Charakters darstellt, beschreibt KIEN den praktischen Umgang mit unserem Charakter. Hier gilt es, die Harmonie unserer charakterlichen Gegensätze wahrzunehmen und zu leben. Und das gelingt nur mit einer Haltung der Bescheidenheit, ausgedrückt und beschrieben im Hexagramm KIEN.
KIEN – Die Bescheidenheit
Das Urteil
Bescheidenheit schafft Gelingen.
Der Edle bringt zu Ende.
„Die Schicksale folgen festen Gesetzen, die sich mit Notwendigkeit auswirken. Aber der Mensch hat es in der Hand, sein Schicksal zu gestalten, je nachdem er sich durch sein Benehmen dem Einfluss der segnenden oder zerstörenden Kräfte aussetzt. So gelingt es dem Edlen, sein Werk zu Ende zu führen, ohne sich des Fertigen zu rühmen.“
Das I Ging betont an einer anderen Stelle die Wichtigkeit, sich dem Buch der Wandlungen mit der rechten Haltung zu nähern.
„Erst nimm die Worte vor,
besinn dich, was sie meinen,
dann zeigen sich die festen Regeln.
Doch bist du nicht der rechte Mensch,
dann äußert sich der Sinn dir nicht.“
Bescheidenheit bedeutet in diesem Fall, sich zurückzunehmen, sowohl in erfolgreichen und glücklichen Situationen als auch in schwierigen und schmerzhaften Zeiten. Das I Ging rät, uns der Gesetzmäßigkeiten des Himmels bewusst zu sein. Diese „festen Regeln“ schaffen Tag und Nacht, Hitze und Kälte, Schmerz und Glück. Der „rechte Zugang“ liegt in der Akzeptanz dieser Dualität. Bescheidenheit entdramatisiert unsere Bewertung des einen und des anderen Extrems. Mit einem bescheidenen Herzen verzweifeln wir nicht angesichts großen Unglücks noch machen wir in Zeiten übergroßen Erfolges die Götter neidisch auf unser Glück.
Das Bild
„Inmitten der Erde ist ein Berg: das Bild der Bescheidenheit. So verringert der Edle, was zu viel ist, und vermehrt, was zu wenig ist. Er wägt die Dinge und macht sie gleich. Der Erde, in der ein Berg verborgen ist, sieht man ihren Reichtum nicht an, denn das Hohe des Berges dient zum Ausgleich der Vertiefungen. So ergänzt sich Hohes und Tiefes, und das Resultat ist die Ebene. Hier ist das Bild der Bescheidenheit, dass das, was langer Wirkung bedurfte, als selbstverständlich und leicht erscheint.“
KIEN bezeichnet die innere Haltung, die notwendig ist, damit wir überhaupt die Bildung des Charakters beginnen. Die Bescheidenheit (Berg unter der Erde) ehrt andere und kommt dadurch selbst zu Ehren. Auf diese Weise entsteht Freundlichkeit im Umgang unter den Menschen. Ein bescheidener Mensch pflegt die menschlichen Umgangsformen der Höflichkeit und übt sein Zeremoniell als Integration in das Leben der Natur.
Eine KIEN- Anekdote
Einst wollte ein Europäer einen längeren Aufenthalt in Japan dazu nutzen, die Kampfkunst Jiu-Jitsu zu erlernen. Seine ersten Unterrichtsstunden verliefen für ihn jedoch sehr enttäuschend, bestanden sie nämlich nur aus langsamen, bedächtigen Bewegungen. Enttäuscht wandte er sich an den Meister und fragte, wann er den nun endlich mit dem Unterricht beginnen würde. Der Meister bat ihn, doch auf der Übungsmatte Platz zu nehmen, und fragte den Europäer, ob er denn wohl gut sitzen würde. Der Europäer bejahte und erwiderte, nun schon etwas missmutig geworden, was denn ein gutes Sitzen mit der Kampfkunst zu tun habe.
„Ich sehe ein“, entgegnete der Meister, „dass ihr das Kämpfen erlernen wollt. Aber wie wollt ihr kämpfen, wenn ihr euer Gleichgewicht nicht im Griff habt?“ „Ich erkenne nun wirklich nicht den Zusammenhang zwischen meinem Gleichgewicht und eurer Kampfkunst“, antwortete der Europäer.
„Wenn ihr nicht einmal im Sitzen euer Gleichgewicht halten könnt, wie wollt ihr dann kämpfen?“ Während dieser Worte hatte sich der Meister dem Europäer genähert und ihn leicht angeschubst, woraufhin der Europäer einfach umkippte.
Im Gegenzug bot der Meister dem Europäer an, das Gleiche bei ihm zu probieren. Doch so sehr sich dieser auch bemühte, der Meister war um keinen Millimeter zu bewegen. „Ich hoffe, dass ihr nun die Bedeutung des Gleichgewichts für die Kampfkunst und für euer Leben erkennt“, erklärte der Meister mit sanfter, aber bestimmter Stimme.
HINWEIS: Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Serie der „neun Hexagramme der Charakterbildung“ im I Ging. Beginnend mit der Ausgabe 177 (Das Auftreten) ist die Bescheidenheit die zweite Tugend dieser Reihe.
Text Helmut Knoblau
Titelbild — Der Erde, in der ein Berg verborgen ist, sieht man ihren Reichtum nicht an, denn die wahre Höhe ist nicht sichtbar. Daher wird es als Bild für die Bescheidenheit verwendet
Quelle: Adobe Stock: FILE #: 156204903
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