Der Psychiater unter den Philosophen

Karl Jaspers (1883–1969)

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Es bleibt nur ein Weg: Die Philosophie muss die Wahrheit, den Sinn und das Ziel unseres Lebens zeigen. Sie ist von ungeheurem Wert. Wenn sie nicht wäre, müsste das Leben scheußlich sein.“

Zu Beginn des 20. Jh.s war die psychiatrische Medizin noch kein wissenschaftlich fundiertes Gebiet und die Existenzphilosophie noch in ihren Kinderschuhen.

Beides änderte sich durch die Arbeiten von Karl Jaspers. Ursprünglich wollte er Jurist werden. Schließlich studierte er Medizin, um sich später im Fach Psychiatrie zu spezialisieren. Dass er letztlich sogar Ordinarius für Philosophie wurde (obwohl er nie Philosophie studierte), ist auf seine außerordentlichen wissenschaftlichen Leistungen zurückzuführen.

Schon mit 30 Jahren veröffentlichte er seine „Allgemeine Psychopathologie“, ein Werk, das der methodischen Grundlegung der Psychiatrie als Wissenschaft diente. Es machte ihn vor allem in der Fachwelt der Medizin bekannt. Dass sich mit Jaspers Denken zugleich eine neue Art von Philosophie ankündigte, verdeutlichte sein zweites Frühwerk: „Psychologie der Weltanschauungen“. Damit war der Grundstein der modernen Existenzphilosophie gelegt. Jaspers beschäftigt sich darin mit den psychologischen Motiven von Glaubensvorstellungen sowie mit den Abgründen existenziell prägender Grenzsituationen.

Es brachte ihm jedoch nicht nur Berufungen ein, sondern besonders auch Ablehnung.

Sein Professoren-Kollege in Heidelberg, der Neukantianer Heinrich Rickert, lieferte sich mit ihm in den folgenden Jahren so manches Gefecht, da er in der Berufung Jaspers zum Ordinarius den Anfang vom Ende der Philosophie erachtete.

Der Konflikt der beiden ist typisch für die tiefen Gräben  zwischen den metaphilosophischen Vorurteilen verschiedener Philosophen. Während Jaspers Fragen der Sinnerfüllung, der Krisenbewältigung, der Existenzverwirklichung und der Erörterung der Mysterien des Seins in den Mittelpunkt stellte, lehnten viele seiner Kollegen einen solchen „Missbrauch“ der Philosophie entschieden ab. Denn für viele Philosophen sind allein Fragen der Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie und Logik von Belang für die Philosophie.

Trotz der Verdienste von Jaspers, der nicht nur als Vater der deutschen Existenzphilosophie, sondern auch als einer der wichtigsten Akteure beim ideologischen Wiederaufbau der deutschen Universitäten gilt, ist er heute nur mehr wenigen bekannt. Ebenso wenig bekannt ist seine beinahe schicksalhafte Prädestinierung für existenzphilosophische Fragen, die ihm durch seine schwierigen Lebensumstände auferlegt schien. Sein Werdegang war dabei genauso ungewöhnlich wie seine gesundheitliche Konstitution, an der er sein Leben lang schwer litt: Immer wieder überkam ihn eine lebensbedrohliche Atemnot, die von einer angeborenen Lungenerkrankung herrührte. Sie machte ihm ein normales Berufsleben fast unmöglich und ließ ihn ständig mit dem eigenen Tod rechnen.

Während des 2. Weltkriegs entging er nur knapp der Exekution, da er mit einer Jüdin verheiratet war. Seine Deportation war für den 15. April 1945 vorgesehen. Doch Heidelberg, wo er lebte, wurde am 1. April 1945 von den Amerikanern befreit. Der sich in seinem Leben ständig wiederholende Eindruck des Ausgeliefertseins gegenüber der unberechenbaren Willkür seines Körpers, das wiederholte  Erleben von Grenzsituationen, in denen sich der Mensch hilflos dem drohenden Verlust alles Geliebten, wie in einem freien Fall ins Nichts ausgesetzt fühlt, ohne dass irgendein Wissen davor schützen könnte – genau solche tiefen, inneren Erschütterungen prägten das Leben Karl Jaspers.

Zeit, Vergänglichkeit und wahres Selbstsein gewinnen eine unter normalen Umständen völlig unzugängliche Dimension des Wirklichen.

Ähnlich wie einst Søren Kierkegaard unterschied auch Jaspers zwischen mehreren Stufen der Existenzverwirklichung:

  1. Das bloße Dasein: Der instinktorientierte, egoistische, von Trieben bestimmte, bloße Daseinswille, der sich auch in amoralischem Macht- und Anerkennungsstreben äußert.
  2. Das Bewusstsein überhaupt: Der Mensch wird hier zum Verstandeswesen, das über sich selbst zu reflektieren beginnt und Widersprüche in seinem Handeln erkennt.
  3. Die Stufe des Geistes: Die Vielfalt an Gütern, Erfahrungen und Werten kann hier bereits im Rahmen eines anerkannten Sinnkonzepts bewertet, verortet und verarbeitet werden.
  4. Die Stufe der Existenz: Sie erweist sich als nicht definierbarer, von außen unzugänglicher Bereich existenzieller Selbsterfahrung in Grenzsituationen oder als besondere Form der Selbsterfahrung in Momenten existenzieller Kommunikation.

Von 1948 bis 1961 hatte Jaspers einen Lehrstuhl für Philosophie in Basel inne. Nachdem er sich in Deutschland politisch heimatlos fühlte, setzte er sein öffentliches Engagement von der Schweiz aus fort. Seine Frau Gertrud Jaspers war ihm immerzu seine wichtigste emotionale Stütze.

Vieles von dem, was er über wahres Selbstsein durch existenzielle Kommunikation schrieb, verdankte er jener innigen Offenheit, Aufmerksamkeit und theoretischen Reflexionsbereitschaft, die ihm seine Frau widmete. Gegen Ende seines Lebens bemühte sich Jaspers darum, ein anderes Thema zu vollenden: die Möglichkeit eines philosophischen Glaubens angesichts der Offenbarung. Da Jaspers selbst von der Existenz Gottes überzeugt war, sich jedoch mit den Dogmen der Offenbarungsreligionen nicht zufriedengab, bemühte er sich, einen genuin philosophischen Standpunkt gegenüber der Allgegenwart der „Transzendenz“ (für Jaspers ein neutraler Gottesbegriff) zu begründen.

Denn wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, sind wir Menschen in der Lage, Grenzsituationen zu überstehen, ohne dazu selbst die nötige Kraft zu haben.

Gott teilt sich dabei meist auf indirekte Weise, also durch Menschen, Ereignisse und Fügungen mit, die auf rätselhafte Weise Sinn ergeben („Chiffren der Transzendenz“) und zum idealen Zeitpunkt geschehen. Wie durch ein Wunder erreichte Jaspers ein Lebensalter von 86 Jahren, obwohl dies niemand je erwartet hätte. Sein Bruder hingegen nahm sich wenig über vierzigjährig das Leben – obwohl er im Gegensatz zu Jaspers von Geburt an gesund war. Die Fügungen, die uns das Leben beschert, genauso wie das Offenbarwerden des Seins durch persönliches Scheitern in Grenzsituationen waren für Jaspers jene Mysterien, die ihn am meisten faszinierten.

 

Literaturhinweis

  • Salamun, Kurt: 2006. Karl Jaspers. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. Würzburg: Königshausen & Neumann, 163.
  • Saner, Hans: 1999. Karl Jaspers. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (rowohlts monographien), 184.
  • Weischedel, Wilhelm: 2010: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken. München: dtv, 292-310.

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