Der Mann, der zwei Mal verbrannt wurde

... heißt Miguel Servet. Die Katholiken mussten sich mit einer Strohpuppe begnügen

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Genf, den 27. Oktober 1553. Der spanische Arzt, Philosoph und beschlagene Theologe Miguel Servet wird aus seinem Kerker im Rathaus geholt. Das öffentlich verlesene Urteil lautet: Tod auf dem Scheiterhaufen. Sein Verbrechen: Häresie. Der katholischen Inquisition in Frankreich konnte er entkommen, im reformierten Genf des Johannes Calvin aber war die Falle zugeschnappt. Der Zug setzt sich in Bewegung, lässt den mächtigen Bau der gotischen Kathedrale links liegen, wo Calvin gepredigt hatte und wo noch sein Stuhl zu sehen ist, vorbei am Place Bourg de Four mit den vielen Kneipen, in denen heute „Calvin Bier“ ausgeschenkt wird, nach dem Stadtteil Champel, der damals außerhalb der Stadt lag und wo sich jetzt der große Krankenhauskomplex Genfs befindet. Heute steht dort, wo die Rue Michel-Servet auf die Avenue de Beau-Séjour trifft, ein Gedenkstein und seit 2011 auch eine Skulptur von Miguel Servet. An jenem 27. Oktober 1553 aber stand hier der Scheiterhaufen. Man bindet Servet ein Exemplar seines Buches „Christianismi Restitutio“ an den Leib, setzt ihm einen mit Schwefel bestäubten Strohkranz auf den Kopf und zündet das grüne Holz an. Eine halbe Stunde dauert sein Todeskampf, er schreit, schreit, schreit, immer wieder auch „Jesus, Sohn des ewigen Gottes“. Hätte er „Jesus, ewiger Sohn Gottes“ geschrien, wäre es ein Widerruf gewesen. Ob es ihm genützt hätte, ist fraglich.

Im Schweizer Stadtstaat Genf gab es zwar eine zivile Regierung, die für die Gerichtsbarkeit zuständig war, aber Johannes Calvin war der starke Mann, der die reformierten Pastoren geschlossen hinter sich hatte. Gegen seinen Willen kam niemand an. Wenn Calvin gewollt hätte …, aber er wollte nicht. Schon früher hatte er an seinen engsten Vertrauten Farel geschrieben, dass Servet die Stadt nicht lebend verlassen würde, sollte er in Genf auftauchen.  Warum war Servet überhaupt nach Genf gekommen? Das ist bis heute unklar, denn die beiden kannten sich, zwar nicht persönlich, aber sie hatten brieflich über ihre theologischen Meinungsverschiedenheiten diskutiert und wussten, was sie voneinander zu halten hatten. Beide hatten in Paris studiert, der Nordfranzose Calvin Theologie, der Spanier unter dem Pseudonym Michel de Villeneuve Medizin, Astrologie und Mathematik. Beide mussten schon damals vor der Inquisition fliehen. Calvin kam nach einigen Umwegen über Straßburg und Basel nach Genf, wo er seine Version eines reformierten Christentums entwickelte; Servet wurde vorerst unter seinem Decknamen Leibarzt des Erzbischofs von Lyon und ein geachteter Bürger von Vienne, wo der Erzbischof residierte. Hier brachte er heimlich das Buch heraus, das mit ihm auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Obwohl anonym und ohne Angabe des Druckortes erschienen, wird der Verfasser schnell aufgedeckt, wobei Calvin seine lange Hand im Spiel hatte, denn er kannte die Position Servets. Servet wird vor die Inquisition gezerrt, kann fliehen – und taucht ein paar Monate später in Genf wieder auf.

Der Taliban von Genf

Das reformierte Christentum Calvinscher Prägung war Staatsreligion in Genf. Wer anders dachte, musste die Stadt verlassen. So auch Sebastian Castellio, einst ein Mitstreiter Calvins. Er wanderte nach Basel aus, wo wir ihn später noch treffen werden. Andererseits war die Stadt voller Glaubensflüchtlinge, denn die Protestanten wurden vor allem in Frankreich verfolgt und getötet, aber auch in Großbritannien, das zu dieser Zeit gerade dem Katholizismus anhing. Der Schotte John Knox war mit einem ersten Versuch, die Reformation durchzusetzen, gescheitert und hielt sich auch in Genf auf. Später wurde er der Gründer der „Church of Scotland“. Die Stadt Genf galt also den einen als das „neue Jerusalem“; für viele der alteingesessenen Genfer Bürger war sie jedoch zu einem Joch geworden, unter das man sich zähneknirschend beugen musste. Jede Art von Luxus oder Prachtentfaltung war verpönt; weltliche Feiern wie Hochzeiten oder Geburtstage durften nur in aller Stille begangen werden. Tanz und Gesang, gar Kartenspiel oder Sex außerhalb der Ehe wurden streng geahndet. Als Taufnamen waren nur biblische Namen zugelassen. Künstlerische Betätigung? Wer käme unter diesen Umständen auch nur auf den Gedanken? Am schlimmsten war aber wohl die Glaubensüberwachung. Jede geringfügige Abweichung von der theologischen Linie Calvins wurde als Angriff auf die Ehre Gottes gewertet und entsprechend bestraft. Ganz rigoros ging man mit „Hexen“ um, die auch aktiv aufgespürt wurden und unweigerlich auf dem Scheiterhaufen endeten. Ein Gottesstaat? Das „Handelsblatt“ jedenfalls titelte am 10.07.2009: „Johannes Calvin: Der Taliban von Genf“. Selbstverständlich galt bei allen Gottesdiensten Anwesenheitspflicht. Auch deshalb ging Servet am Tag nach seiner Ankunft in die Kirche. Dort erkannten ihn einige französische Flüchtlinge. Kurz darauf wurde er gefangen genommen. Es war der 13. August 1553.

Servet wurde 1511 in dem kleinen Dorf Villanueva in Aragón geboren, ging in Saragossa zur Schule, und war dann einige Jahre Zögling und Mitarbeiter des Mönchs Juan de Quintana. Mit ihm reiste er u. a. zur Kaiserkrönung Karls V. nach Bologna, denn Quintana war der Beichtvater Karls. Servet bewegte sich also in gehobenen Klerikerkreisen und war an theologische Spitzfindigkeiten gewöhnt. Wenn Servet heute von Freidenkern vereinnahmt wird, so muss man dem entgegenhalten, dass er ein zutiefst frommer Mann war, der die Bibel kannte wie wenige. Seiner Meinung nach gab es für die Dreifaltigkeit, also die drei „Personen“ in dem einen Gott, keine biblische Grundlage. Heutzutage ist das Interesse an der Trinitätslehre, die 325 auf dem ersten Konzil von Nicäa beschlossen wurde, eher gering, aber daran zu kratzen kam lange einem Angriff auf das Christentum gleich – darin waren sich Katholiken und Protestanten einig. Dass sich Servet gerade mit dieser Frage so intensiv beschäftigte, hat sicher mit seiner Herkunft zu tun. Er hatte in seiner Heimat Spanien erlebt, dass Juden und Mauren dieses Dogma vehement ablehnten, das damit zu einem Hindernis für deren Bekehrung wurde. Jedenfalls war ihm diese Frage so wichtig, dass er sein Leben dafür gab.

Der fromme Häretiker

Der Häretiker war also tot und das Ärgernis aus der Welt geschafft … Mitnichten. Die Aufregung unter den Menschen war groß, aber das Feuer schwelte eher unter der Decke. Nur eine Stimme erhob sich wie eine Stichflamme: „Einen Menschen töten heißt nicht eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten!“ Diese Stimme kam von Sebastian Castellio aus Basel, der nach seinem Rausschmiss aus Genf zuerst als schlecht bezahlter Korrektor in einer Druckerei arbeitete, bevor er Dozent für Griechisch an der Universität wurde. Seine Liebe galt der Übersetzertätigkeit, und es gab viele, die bedauerten, dass sich Castellio nicht auf diese seine „Kernkompetenz“ beschränkte, sondern sich mit Calvin angelegt hatte. 1554 brachte er ein Buch heraus, das ein Meilenstein in der Geschichte der Toleranz und der Religionsfreiheit werden sollte: „De haereticis, an sint persequendi“ also „Über Häretiker und ob man sie verfolgen darf“. Castellio sagt laut und deutlich Nein. Dieser schmale Band besteht aus Bibelstellen, Aussagen der Kirchenväter über Erasmus bis hin zu –  man höre und staune – Luther und Calvin, die sich in jungen Jahren, als sie selbst noch verfolgt wurden, dagegen aussprachen. Was folgte, war ein Kampf der Meinungen, der mittels Druckschriften zwischen Genf und Basel ausgetragen wurde. Castellio war zwar ein Humanist, argumentierte hier aber ausschließlich über die Bibel. Er gibt, kurz gesagt, der Nachfolge Christi den Vorzug vor der doktrinären Festlegung Calvins. Wie brenzlig die Lage selbst in Basel für Castellio wurde, zeigt der „Schutzbrief“, den der Reformator Melanchthon an Castellio schrieb. Er hatte seinerzeit die Ermordung Servets noch gutgeheißen; als sich aber die Schlinge um den Hals Castellios zuzuziehen begann, fühlte sich Melanchthon gezwungen, sein Ansehen für Castellio in die Waagschale zu werfen. Bevor es allerdings so weit kam, verstarb der 1515 geborene Savoyer Bauernsohn im Jahre 1563.

Der mutige Humanist

Was ist ein Häretiker? Dieser Frage geht Castellio im Vorwort zu seinem Buch nach. Und antwortet: „haeresis“ ist griechisch und bedeutet „Meinung“. Nun sind nicht nur Juden und „Türken“ (wie man damals alle Muslime nannte) verschiedener Meinung, nein, auch die Christen sind sich nicht einig und bekämpfen einander „viel grausamer als die Türken die Christen verfolgen“. Das war starker Tobak, damals wie heute. Aber Castellio geht noch weiter. Auch Jesus sei ja als Ketzer hingerichtet worden. Wer seine Mitmenschen also als Ketzer verfolgt und tötet, begeht die schlimmste aller Gotteslästerungen.

Bleibt immer noch die Frage: Wer ist ein Häretiker? Castellio sagt kurz und bündig: Einer der anders denkt als wir. Und damit wird eine geschichtliche Frage hochaktuell. Zugegeben, der Scheiterhaufen ist aus der Mode gekommen, aber es gibt noch genug andere „Hinrichtungsmöglichkeiten“. Wir müssen auch von der damaligen Problematik abstrahieren, die viele heute gar nicht mehr interessiert. Wenn ein Problem nicht mehr als solches wahrgenommen wird, ist es leicht, tolerant zu sein, aber wie steht es mit einer sozialen, ethischen, religiösen oder persönlichen Frage, die uns unter den Nägeln brennt? Sind wir auch dann bereit, dem „Ketzer“ seine andere Meinung zuzugestehen und auf eine Verfolgung zu verzichten?

Aus der geschichtlichen Auseinandersetzung ging Johannes Calvin ganz klar als Sieger hervor. Nicht nur starb er als angesehener und geachteter Reformator, der als einziger der drei hier vorgestellten historischen Persönlichkeiten ein Grab hat, sondern er wurde auch zum „geistigen Gründervater Amerikas“ (so der Historiker Leopold von Ranke), wohin viele derer, denen die Reformation in Europa nicht weit genug ging, auswanderten. Die „Protestantismusthese“ des Soziologen Max Weber beruht auf der Arbeitsethik Calvins, und wenn wir beim Faulenzen ein schlechtes Gewissen haben, outen wir uns als Kinder Calvins. Der fromme Miguel Servet ist Medizinern bekannt, weil er den Lungenkreislauf, der das Blut vom Herz zur Lunge und wieder zurückbringt, entdeckt hat. Auch er ist zu einer Art Gründervater geworden, nämlich dem der christlichen Unitarier. Castellio ist der am wenigsten bekannte von den Dreien. Als Universitätslehrer war Castellio im Kreuzgang des Basler Münsters bestattet worden, aber aus unerfindlichen Gründen wurde seine Grabplatte entfernt. Werner Kaegi hielt 1953 an der Basler Universität eine Rede, die Castellio gewidmet war. Er sagte darin: „Im 17. und 18. Jh. hat sich der Name Castellios vom Häretikerproblem gelöst und mit der Freiheit verknüpft. Eine Frucht davon ist die Einfügung der Toleranz in den Katalog der Menschenrechte.“  Stefan Zweig hat ihm ein fulminantes Buch gewidmet. In einem Brief an Joseph Roth schreibt Zweig am 10.September 1937: „Castellio, das ist das Bild eines Mannes, der ich sein möchte.“

 

Literaturhinweis

Zu Servet:           Uwe Birnstein, Toleranz und Scheiterhaufen. Göttingen 2013

Zu Castellio:       Werner Kaegi, Castellio und die Anfänge der Toleranz. Basel 1953

Stefan Zweig, Castellio gegen Calvin. Ein Gewissen gegen die Gewalt. Neuausgabe Berlin 2016

Zu Calvin:            Uwe Birnstein, Der Reformator. Wie J. Calvin Zucht und Freiheit lehrte. Berlin 2009

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