Berg-Ekstase
Berg-Ekstase
Schopenhauer stieg gerne auf Berge. Dort erlebte er ein kurzes Glück und nannte es „Ekstase“. Folgen wir ihm auf einer imaginären Reise und schauen ihm über die Schulter, was er dort am Berg gefunden und was er verloren hat.
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eine Philosophie verstand er als eine rein geistig mentale Tätigkeit, frei von jedem Zweck und Bedürfnis. Er wollte die Welt verstehen, sie aber nicht ergründen. Kant, Platon und Buddha waren dabei seine Ge(h)hilfen und als Philosoph der Neuzeit inspirierte er Künstler und Wissenschaftler.
In aller Früh im Tale, die Sonne versteckt sich noch hinter dem Horizont. Es ist der kälteste Moment der Nacht, Nebel zieht zwischen den Gassen umher, der Wind lässt einen frösteln, es riecht nach Rauch. Ein Hund kläfft, eine Katze schreit. Unsicherheit ergreift das Herz.
Was ist die Welt? Nach Schopenhauer besteht die Welt aus Wille und Vorstellung. Der Wille ist für ihn das kantsche „Ding an sich“ – die Ursache hinter aller Realität. Er versteht darunter den instinktiven Lebenswillen aller Wesen, den Selbsterhaltungstrieb, der tief in unserer inneren Leiblichkeit existiert. Alles Wasser drängt zum Meer, beharrlich richtet sich die Magnetnadel zum Nordpol aus, der Mensch pflanzt sich durch Sexualität fort, alles um diesem inneren Gesetz des Willens zu folgen. Und sogar das Wirkliche ist nicht von Vernunft geleitet, sondern vom egoistischen Willen. Alle Welt außerhalb von mir, das ist Vorstellung, meine subjektive Vorstellung von der Welt, jede Objektivität eine Illusion. Wir glauben daran, die Natur zu beherrschen, wir vergöttlichen die Mechanik, wir richten uns gemütlich ein in unseren äußeren Lebensumständen. Alles Maya, so wie östliche Philosophien die sicht- und greifbare Realität nennen und wie sie Schopenhauer in seinen Werken aufnimmt. An diese Illusionen sind wir gefesselt, wie an das Rad des Ixion; eines mythischen Königs, der für seine Verfehlungen von Zeus an ein ewig drehendes Rad gefesselt wurde. Das schmerzt, das Leben schmerzt, der Mensch im Würgegriff des Willens, wir leiden. Gibt es einen Ausweg?
Nach Schopenhauer besteht die Welt aus Wille und Vorstellung. Der Wille ist für ihn das Kant‘sche „Ding an sich“ – die Ursache hinter aller Realität.
Wir schauen nach oben
Erste Helligkeit beleuchtet die Baumwipfel, die sich spielerisch im Wind bewegen. Wir beginnen den Anstieg, betreten den Pfad, der sich bergauf windet. Unser Puls beschleunigt, uns wird es wärmer, die Luft klärt sich und zwischen den Bäumen blicken wir über die Dächer auf die mit Tau belegten Wiesen. Ein Reh schreitet vorsichtig darüber.
Schopenhauer hat gelitten; als ungeliebtes Kind, in einer erzwungenen Ausbildung als Kaufmann, am Desinteresse der Öffentlichkeit an seiner Philosophie. Ein Einzelgänger, der sich von seiner Familie lossagt, ohne Freunde und Vertraute, ein „Kaspar Hauser der deutschen Philosophie“ (Safranski). Nichts wie weg aus dieser Welt! Er flüchtet aus der lieblosen Horizontalen in die Kontemplation. Sie löst ihm das Leid. Das Nicht-Haften an der Welt kann gelingen; er nennt es „die Verneinung des Willens“, und als Mittel dazu entdeckt er die Philosophie und die Kunst. Ein philosophischer, ein ästhetischer Blick auf die Welt vertikalisiert. Wie in Platons Höhlengleichnis strebt der Philosoph aus dem Dunkel der Höhle ans Licht der Sonne, nach oben. Der romantische Zeitgeist feiert die Kunst als Religion, dem gemäß erhellen für Schopenhauer Poesie und Musik das Leben. Im Enthusiasmus des Künstlers, im Genuss des Schönen möchte er der Welt entkommen.
Die Wälder liegen hinter uns, die Bergspitze ist nah. Mit einer letzten Anstrengung erreichen wir den Gipfel und im Gleichklang steigt die Sonne aus dem Meer des Horizonts herauf und erleuchtet mit seinem goldenen Licht die Welt, während im Tale noch das Dunkle verweilt. Wärme breitet sich im Herzen aus, der Blick reicht in die Weite, ins Unendliche; ein Adler gleitet über die Wellen des Windes. Erhabenheit ergreift uns.
Das Kleine verschwindet, das Große erscheint
Eine heroische Einsamkeit entsteht. So empfindet Schopenhauer die Momente des Sonnenaufgangs. Auf dem Gipfel verortet er das bessere Bewusstsein. Ein metaphysischer Zustand der Ekstase, außerhalb der Welt, raum- und zeitverloren, und auch ichverloren, versunken im Anblick. Das Rad des Ixion steht still. Ein mystischer Ort, an dem sich alle Gegensätze auflösen. Aus der Tretmühle des Lebensgeschäftes entkommen, wie er es nennt, aus dem empirischen Bewusstsein. Hier findet man Glück und Erkenntnis; der Schleier der Maya zerreißt und wir erleben den anderen Menschen – das Du und das Ich – als Teil von etwas Größeren, als Teil einer Einheit. Hier oben erkennt Schopenhauer, dass alles nur ein Spiel ist, und er nur ein Zuschauer, der einen kurzen Blick über den Zaun ins wahre Weltgeschehen werfen kann.
Schopenhauer steht quer zum philosophischen Zeitgeist
Er verneint die Möglichkeiten des Ichs und des Machens, die einen Romantiker wie Novalis („Was ich will, das kann ich.“) oder ein Vertreter des deutschen Idealismus wie Fichte („Ich bringe mich als ICH hervor, deswegen bin ich.“) antreiben. Der Mensch als Werkmeister seines Glücks, wie es Hegel propagiert? Absurd für ihn. Er hat keine Lust am Machen, sondern am Nachlassen. Er hat keine Lust an Freiheit, sondern er sieht den Menschen vom Trieb gesteuert. Im Gipfelerlebnis eines musischen Hinaufschwingens akzeptiert Schopenhauer allein eine kurzzeitige Erkenntnis der Welt, ein rasches Atem-Holen, einen schnellen Blick zur Sonne der Weisheit, eher er wieder hinab auf den Boden der kläglichen Realität schlittert.
Schopenhauer litt als ungeliebtes Kind, in einer erzwungenen Ausbildung als Kaufmann, am Desinteresse der Öffentlichkeit an seiner Philosophie.
Schopenhauer entzieht sich jeder einfachen Einordnung. Er verkündet eine Art subjektiven Idealismus, der zwischen einem Materialismus und einer Philosophie des Geistes schwingt. Sein eigener Anspruch war es nicht weniger als die gesamte Philosophie umzuwerfen. Und sicher hat er wesentliche Erkenntnisse der Psychologie und Geisteswissenschaften vorbereitet und nicht wenige Berühmtheiten wie Freud, C. G. Jung, Nietzsche, Wittgenstein, Einstein, Wagner mit seiner Philosophie erreicht. Bekannt wurde er erst am Ende seines Lebens, insbesondere durch seine Aphorismen zur Lebensweisheit.
Doch etwas verwundert
Durch die Brille einer praxisnahen Philosophie gesehen, die versucht, theoretische Erkenntnisse auf das eigene Leben anzuwenden, mag es überraschen, wie uns Schopenhauer als Mensch gegenübertritt. Von einem erhabenen Charakter, gereinigt und erbaut durch eine Berg-Mystik ist wenig zu entdecken. Sein Temperament wird als sehr pessimistisch und ängstlich beschrieben, von einer starken Weltskepsis durchtränkt. „Es wird schlecht und es wird täglich schlechter werden – bis das Schlimmste kommt.“ Durch seine besserwisserische Art und übellaunige Kritiksucht vergrault er nicht nur wohlmeinende Bekannte wie Goethe oder den Verleger Brockhaus, sondern vergällt auch jeden fruchtbaren Kontakt zu den Philosophie Gelehrten der damaligen Zeit, wie Hegel, Schelling, Schleiermacher oder Fichte.
Im Ringen um das finanzielle Erbe seines Vaters, das es ihm zeit seines Lebens erlaubt, keinem Brotberuf nachgehen zu müssen, kappt er die Beziehungen zu seinen einzigen Verwandten, seiner Mutter und seiner Schwester und lässt sie in ihren prekären Situationen mitleidslos allein. „Ein Genie braucht keine Freunde und Frauen, Monolog ist am interessantesten.“ Die einzige Gesellschaft, die er dauerhaft zulässt, ist sein Pudel.
Als einer der ersten deutschen Philosophen hat er sich eindringlich mit den Lehren aus Fernost beschäftigt, wie den indischen Upanishaden oder den mystisch buddhistischen Texten. Die moralphilosophischen Ideen des Mitleids, des Sowohl-als-Auchs, der Erlösung in einem Nichts – das alles beinhaltet, finden in seinen Schriften Eingang. Doch er steigt auf den Berg, um von den „Zweifüßlern“, wie er die gewöhnlichen Menschen abschätzig nennt, weit möglichst entfernt zu sein. Aus dem Chaos der Welt zu entrinnen, sie unter sich zu haben. Er möchte nicht dem Himmel nah sein, sondern der Welt fern, in der es keine Hoffnung gibt und jede Sinnsuche vergeblich ist.
Es drängt sich der Eindruck auf, nicht nur einem Misanthropen, sondern auch keinem moralischen Vorbild gegenüberzustehen, zumindest wenn wir unter gelebter Moral Mitgefühl, Verbundenheit, Verständnis oder Bescheidenheit verstehen. Hatte er das Zerreißen des Schleiers der Maya erlebt? Hatte er einen inneren Himmel erreicht? Kannte er das Gefühl der allumfassenden Einheit, wenn sich alles auflöst und es kein Subjekt und Objekt mehr gibt, so wie er es beschreibt?
„Hinter unserem Dasein nämlich steckt etwas anderes, welches uns erst dadurch zugänglich wird, dass wir die Welt abschütteln.“ Er kommt einem Geheimnis nahe, doch er scheut sich dies zu ergründen. Was er dort oben fand, war eine
Befristete göttliche Ekstase ohne Gott
eine himmlische Höhe ohne Himmel. Trotz seines Zugangs zu den östlichen spirituellen Weisheitstexten lebte er in metaphysischer Obdachlosigkeit und durchtrennte das Band zwischen oben vom unten, unversöhnlich.
Es scheint, als fehlte dem berühmten Philosophen ein praktischer Übungsweg, um nicht nur physisch auf einen Berg zu steigen, sondern sich zu einer Anhöhe der inneren Entwicklung empor schwingen zu können; um einen anstrengenden Weg zu beschreiten, die eigenen Schwächen zu schwächen und Stärken zu stärken, in einem steten Auf und Ab, seine Tugenden zu schmieden und dies im Alltag zu erproben. Und um den Weg bergauf nicht als Flucht, sondern als Schritt hin zu den Menschen zu sehen. Besonders wenn man aus der Vogelperspektive Raum und Zeit überblicken und einen Sinn, eine Aufgabe für sich erkennen kann, oder ein Dharma, wie es die Inder nennen. Eine vita contemplativa wird dabei von Mystikern vieler Epochen für den Weg der Erkenntnis empfohlen. Dabei soll die Verinnerlichung von Philosophie und Kunst den Menschen veredeln, transformieren und nicht nur seine Triebe zähmen.
Philosophie nur zu intellektualisieren, und sein Herz nicht berühren zu lassen, strahlt eine gewisse Kälte aus.
Handlung und Erkenntnis bedingen einander
So lehrt der indische Gesang der Bhagavad Gita. Anders zu handeln als zu fühlen oder zu denken, wirkt unauthentisch.
Die Metapher des Berges und seiner Besteigung ist nichtsdestotrotz von großer Kraft; kann man doch jederzeit einen Berg erklimmen, selbst wenn man abseits der Berge wohnt, wie z.B. in einer Tieflandbucht, wie in Leipzig. Denn das Bewusstsein erheben, sich reinigen von den Anhaftungen des Alltags, den Geist weiten und die Wärme des Lichts spüren, eine schopenhauerische Ekstase also erleben, das ist jederzeit und von jedem Ort aus möglich. Und diese Erkenntnisse dann ernst nehmen und auf sich nehmen. Eine „Ekstase am Berg“ sollte keine Flucht vor der Welt sein, sondern vielmehr eine innere Stärkung, um wieder kraftvoller ins Tal zurückkehren zu können.
Wir glauben daran, die Natur zu beherrschen, wir vergöttlichen die Mechanik, wir richten uns gemütlich ein in unseren äußeren Lebensumständen.
Dr. Martin Ossberger hat im Schreiben eine Ausdrucksform der Reflexion gefunden. Als Wissenschaftler versucht er immer wieder neue Perspektiven zu eröffnen und das ihm Unbekannte zu erforschen. Auf seinen Reisen hat er gelernt, dass das Abenteuer bei ihm selbst beginnt und die Suche nach der Weisheit im nächsten Schritt liegt.
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