Manuel Stelzl, Autor bei Abenteuer Philosophie Magazin https://www.abenteuer-philosophie.com/author/manuel-stelzl/ Magazin für praktische Philosophie Tue, 14 Dec 2021 16:09:06 +0000 de hourly 1 Aristoteles https://www.abenteuer-philosophie.com/aristoteles/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=aristoteles https://www.abenteuer-philosophie.com/aristoteles/#respond Fri, 10 Dec 2021 07:49:40 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=2466 Magazin Abenteuer Philosophie

„Aristoteles war wohl eines der tiefsten wissenschaftlichen Genies, die je erschienen sind.“
(G. W. F. Hegel)

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Aristoteles war wohl eines der tiefsten wissenschaftlichen Genies, die je erschienen sind.“
G. W. F. Hegel

Zweitausend Jahre lang galt alles, was Aristoteles (384-322 v. Chr.) behauptete, als unanfechtbares Dogma – schreibt der italienische Autor Luciano De Crescenzo. Auch wenn das nicht ganz richtig ist, kann man die wissenschaftliche Bedeutung des Aristoteles kaum überschätzen. Noch zu Beginn der Neuzeit musste jeder ernsthafte Versuch, einen wissenschaftlichen Fortschritt zu erzielen, mit einem Angriff auf einzelne Lehren des Aristoteles beginnen. In der europäischen Scholastik nannte man ihn einfach „den Philosophen“, was seinen uneinholbaren Rang verdeutlicht, wobei manchmal ein Verweis auf ihn bereits genügte, um eigene Thesen zu rechtfertigen. Für die Wissenschaft hatte Aristoteles daher lange eine ähnliche Autorität wie die Bibel für den frommen Christen.

Das Kunststück, die aristotelische Philosophie mit der christlichen in Einklang zu bringen, vollzog Thomas von Aquin.

Dies führte in Frankreich immer wieder vorübergehend zu Verboten aristotelischer Schriften. Denn nach Aristoteles ist die Seele sterblich und Gott wird als unpersönliches Wesen interpretiert, das weder Menschen verdammt noch christliche Fürsorge zeigt. Bereits über 500 Jahre zuvor übte sein Denken einen ähnlich starken Einfluss auf den jüdischen und arabischen Wissenschaftsbetrieb aus.

Doch wer war dieses Genie, von dem noch Immanuel Kant im 18. Jh. sagte, dass dessen formale Logik wohl nicht weiter verbesserbar sei? Wer war diese Person, dessen Denken noch im 20. Jh. zu einer Renaissance der Tugendethik führte?

Obwohl es ganze 2000 Jahre dauerte, bis Männer wie Galileo Galilei und Isaac Newton Grundannahmen der aristotelischen Physik überwinden und der modernen Physik den Weg ebnen konnten, trat die Persönlichkeit des Aristoteles dabei in den Hintergrund. Aristoteles war der erste große Lehrer des Abendlandes, der wie ein Professor arbeitete.

Seine Stärke lag in seiner systematischen Arbeitsweise, die durch hohe analytische Präzision und Reflexionsfähigkeit gekennzeichnet war.

Bei Aristoteles kommt zudem ein Wesenszug zum Ausdruck, der nicht umsonst die Wissenschaft bis heute prägt: die Suche nach Wahrheit wird zum Selbstzweck, d. h. sie darf nicht der Verteidigung erwünschter Vorurteile oder Lebensweisen dienen. Gegenüber Platon zeichnet ihn aus, dass er Mehrdeutigkeiten von Begriffen durch Definitionen vorzubeugen suchte und theoretische von praktischen Disziplinen klar trennte. Damit wurden Wissenschaft und philosophisch inspirierte Ideologie zu unvereinbaren Sphären. Diese Aufrichtigkeit kam auch in seinem Wesen zum Ausdruck. Aristoteles war ein staubtrockener Analytiker, dem jeder Hang zur Leidenschaftlichkeit fehlte. Wer seine Denkweise genau studiert, wird bemerken, dass es bedeutende Übereinstimmungen zwischen der vollendeten Lebensweise nach Aristoteles‘ Ethik und seiner eigenen gab. Erstaunliche Parallelen lassen sich auch zwischen der vollkommenen Glückseligkeit Gottes (laut Aristoteles) und seiner eigenen Lebensweise finden. Gott ist demnach reines Denken, der Materie enthoben und muss sich genauso wenig die Hände mit Materie (z. B. körperliche Arbeit) schmutzig machen wie der aristokratische Philosoph, der es sich leisten kann, vorwiegend zu studieren. Sein größter Reichtum sind Zeit, Bildungsbeflissenheit und Muße. Die negativen Züge dieser Lebens- und Denkweise fallen durch ihre aristokratische Überheblichkeit sowie durch die für dessen Gottesbild typische Gleichgültigkeit und Selbstgenügsamkeit auf. Bertrand Russell kommentiert Aristoteles‘ Ethik folgendermaßen:

„Die sogenannte Güte oder Menschenfreundlichkeit fehlt bei Aristoteles fast völlig. Die Leiden der Menschheit lassen ihn, sofern er sich ihrer überhaupt bewusst wird, ganz unberührt … Mit unangemessen behaglicher Selbstzufriedenheit spekuliert Aristoteles über menschliche Dinge; alles, was die Menschen zu leidenschaftlichem, gegenseitigem Interesse anregt, scheint er zu übersehen. Selbst seine Schilderung der Freundschaft ist lau und matt. Niemals merkt man ihm an, dass er irgendwelche Erlebnisse gehabt hatte, bei denen er Gefahr lief, den Verstand zu verlieren; alle tieferen Aspekte des moralischen Lebens sind ihm offenbar unbekannt.“

Russell dürfte dabei jedoch übersehen haben, dass antike Tugendethiken die Leidenschaftslosigkeit als eines der wertvollsten Güter betrachteten. Die christliche und später kantische Pflichtethik war der gesamten antiken Tugendethik fremd.

Obwohl die Selbstgenügsamkeit des aristotelischen Weisen nicht gerade Sympathien erweckt, sollte gerade Aristoteles nicht nachgesagt werden, dass ihn andere Menschen nicht kümmerten.

So sorgte er für seine Frau und seinen Sohn, ja sogar für Bedienstete testamentarisch vor, während bis heute gelegentlich das humanistische Potenzial seines Denkens hervorgehoben wird. Unter bestimmten Umständen plädierte Aristoteles sogar für die Freilassung von Sklaven und es fehlte ihm jede Neigung zu Jähzorn oder Bosheit. Nachdem Aristoteles gegen Ende seines Lebens von Athen fliehen musste, starb er zurückgezogen unweit von Athen – vermutlich an einem Magenleiden. Seine Schule – das Lykeion – blieb noch ca. bis ins 1. Jh. v. Chr. bestehen.

Literaturhinweis:

  • BIRNBACHER, Dieter: 2007. Analytische Einführung in die Ethik. 2. Auflage. Berlin: de Gruyter (de Gruyter Studienbuch)
  • CORCILIUS, Klaus; Christof RAPP (Hg.): 2011. Aristoteles Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler
  • DE CRESCENZO, Luciano: 1990. Geschichte der griechischen Philosophie. Von Sokrates bis Plotin. Aus dem Italienischen von Linde Birk. Zürich: Diogenes
  • HÖFFE, Otfried: 2006. Aristoteles. München: C.H. Beck (Beck’sche Reihe Denker 535)
  • KOBUSCH, Theo 2011: Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters. München: C.H. Beck (Geschichte der Philosophie, Band V)
  • RUSSELL, Bertrand 2004: Philosophie des Abendlandes. Aus dem Englischen von Elisabeth Fischer-Wernecke. München: Piper

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Der Psychiater unter den Philosophen https://www.abenteuer-philosophie.com/der-psychiater-unter-den-philosophen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=der-psychiater-unter-den-philosophen https://www.abenteuer-philosophie.com/der-psychiater-unter-den-philosophen/#respond Tue, 25 Jun 2019 09:05:21 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=2246 Magazin Abenteuer Philosophie

„Es bleibt nur ein Weg: Die Philosophie muss die Wahrheit, den Sinn und das Ziel unseres Lebens zeigen. Sie ist von ungeheurem Wert. Wenn sie nicht wäre, müsste das Leben scheußlich sein.“ Zu Beginn des 20. Jh.s war die psychiatrische Medizin noch kein wissenschaftlich fundiertes Gebiet und die Existenzphilosophie noch in ihren Kinderschuhen. Beides änderte sich durch die Arbeiten von Karl Jaspers. Ursprünglich wollte er Jurist werden. Schließlich studierte er Medizin, um sich später im Fach Psychiatrie zu spezialisieren. Dass er letztlich sogar Ordinarius für Philosophie wurde (obwohl er nie Philosophie studierte), ist auf seine außerordentlichen wissenschaftlichen Leistungen zurückzuführen.

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Es bleibt nur ein Weg: Die Philosophie muss die Wahrheit, den Sinn und das Ziel unseres Lebens zeigen. Sie ist von ungeheurem Wert. Wenn sie nicht wäre, müsste das Leben scheußlich sein.“

Zu Beginn des 20. Jh.s war die psychiatrische Medizin noch kein wissenschaftlich fundiertes Gebiet und die Existenzphilosophie noch in ihren Kinderschuhen.

Beides änderte sich durch die Arbeiten von Karl Jaspers. Ursprünglich wollte er Jurist werden. Schließlich studierte er Medizin, um sich später im Fach Psychiatrie zu spezialisieren. Dass er letztlich sogar Ordinarius für Philosophie wurde (obwohl er nie Philosophie studierte), ist auf seine außerordentlichen wissenschaftlichen Leistungen zurückzuführen.

Schon mit 30 Jahren veröffentlichte er seine „Allgemeine Psychopathologie“, ein Werk, das der methodischen Grundlegung der Psychiatrie als Wissenschaft diente. Es machte ihn vor allem in der Fachwelt der Medizin bekannt. Dass sich mit Jaspers Denken zugleich eine neue Art von Philosophie ankündigte, verdeutlichte sein zweites Frühwerk: „Psychologie der Weltanschauungen“. Damit war der Grundstein der modernen Existenzphilosophie gelegt. Jaspers beschäftigt sich darin mit den psychologischen Motiven von Glaubensvorstellungen sowie mit den Abgründen existenziell prägender Grenzsituationen.

Es brachte ihm jedoch nicht nur Berufungen ein, sondern besonders auch Ablehnung.

Sein Professoren-Kollege in Heidelberg, der Neukantianer Heinrich Rickert, lieferte sich mit ihm in den folgenden Jahren so manches Gefecht, da er in der Berufung Jaspers zum Ordinarius den Anfang vom Ende der Philosophie erachtete.

Der Konflikt der beiden ist typisch für die tiefen Gräben  zwischen den metaphilosophischen Vorurteilen verschiedener Philosophen. Während Jaspers Fragen der Sinnerfüllung, der Krisenbewältigung, der Existenzverwirklichung und der Erörterung der Mysterien des Seins in den Mittelpunkt stellte, lehnten viele seiner Kollegen einen solchen „Missbrauch“ der Philosophie entschieden ab. Denn für viele Philosophen sind allein Fragen der Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie und Logik von Belang für die Philosophie.

Trotz der Verdienste von Jaspers, der nicht nur als Vater der deutschen Existenzphilosophie, sondern auch als einer der wichtigsten Akteure beim ideologischen Wiederaufbau der deutschen Universitäten gilt, ist er heute nur mehr wenigen bekannt. Ebenso wenig bekannt ist seine beinahe schicksalhafte Prädestinierung für existenzphilosophische Fragen, die ihm durch seine schwierigen Lebensumstände auferlegt schien. Sein Werdegang war dabei genauso ungewöhnlich wie seine gesundheitliche Konstitution, an der er sein Leben lang schwer litt: Immer wieder überkam ihn eine lebensbedrohliche Atemnot, die von einer angeborenen Lungenerkrankung herrührte. Sie machte ihm ein normales Berufsleben fast unmöglich und ließ ihn ständig mit dem eigenen Tod rechnen.

Während des 2. Weltkriegs entging er nur knapp der Exekution, da er mit einer Jüdin verheiratet war. Seine Deportation war für den 15. April 1945 vorgesehen. Doch Heidelberg, wo er lebte, wurde am 1. April 1945 von den Amerikanern befreit. Der sich in seinem Leben ständig wiederholende Eindruck des Ausgeliefertseins gegenüber der unberechenbaren Willkür seines Körpers, das wiederholte  Erleben von Grenzsituationen, in denen sich der Mensch hilflos dem drohenden Verlust alles Geliebten, wie in einem freien Fall ins Nichts ausgesetzt fühlt, ohne dass irgendein Wissen davor schützen könnte – genau solche tiefen, inneren Erschütterungen prägten das Leben Karl Jaspers.

Zeit, Vergänglichkeit und wahres Selbstsein gewinnen eine unter normalen Umständen völlig unzugängliche Dimension des Wirklichen.

Ähnlich wie einst Søren Kierkegaard unterschied auch Jaspers zwischen mehreren Stufen der Existenzverwirklichung:

  1. Das bloße Dasein: Der instinktorientierte, egoistische, von Trieben bestimmte, bloße Daseinswille, der sich auch in amoralischem Macht- und Anerkennungsstreben äußert.
  2. Das Bewusstsein überhaupt: Der Mensch wird hier zum Verstandeswesen, das über sich selbst zu reflektieren beginnt und Widersprüche in seinem Handeln erkennt.
  3. Die Stufe des Geistes: Die Vielfalt an Gütern, Erfahrungen und Werten kann hier bereits im Rahmen eines anerkannten Sinnkonzepts bewertet, verortet und verarbeitet werden.
  4. Die Stufe der Existenz: Sie erweist sich als nicht definierbarer, von außen unzugänglicher Bereich existenzieller Selbsterfahrung in Grenzsituationen oder als besondere Form der Selbsterfahrung in Momenten existenzieller Kommunikation.

Von 1948 bis 1961 hatte Jaspers einen Lehrstuhl für Philosophie in Basel inne. Nachdem er sich in Deutschland politisch heimatlos fühlte, setzte er sein öffentliches Engagement von der Schweiz aus fort. Seine Frau Gertrud Jaspers war ihm immerzu seine wichtigste emotionale Stütze.

Vieles von dem, was er über wahres Selbstsein durch existenzielle Kommunikation schrieb, verdankte er jener innigen Offenheit, Aufmerksamkeit und theoretischen Reflexionsbereitschaft, die ihm seine Frau widmete. Gegen Ende seines Lebens bemühte sich Jaspers darum, ein anderes Thema zu vollenden: die Möglichkeit eines philosophischen Glaubens angesichts der Offenbarung. Da Jaspers selbst von der Existenz Gottes überzeugt war, sich jedoch mit den Dogmen der Offenbarungsreligionen nicht zufriedengab, bemühte er sich, einen genuin philosophischen Standpunkt gegenüber der Allgegenwart der „Transzendenz“ (für Jaspers ein neutraler Gottesbegriff) zu begründen.

Denn wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, sind wir Menschen in der Lage, Grenzsituationen zu überstehen, ohne dazu selbst die nötige Kraft zu haben.

Gott teilt sich dabei meist auf indirekte Weise, also durch Menschen, Ereignisse und Fügungen mit, die auf rätselhafte Weise Sinn ergeben („Chiffren der Transzendenz“) und zum idealen Zeitpunkt geschehen. Wie durch ein Wunder erreichte Jaspers ein Lebensalter von 86 Jahren, obwohl dies niemand je erwartet hätte. Sein Bruder hingegen nahm sich wenig über vierzigjährig das Leben – obwohl er im Gegensatz zu Jaspers von Geburt an gesund war. Die Fügungen, die uns das Leben beschert, genauso wie das Offenbarwerden des Seins durch persönliches Scheitern in Grenzsituationen waren für Jaspers jene Mysterien, die ihn am meisten faszinierten.

 

Literaturhinweis

  • Salamun, Kurt: 2006. Karl Jaspers. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. Würzburg: Königshausen & Neumann, 163.
  • Saner, Hans: 1999. Karl Jaspers. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (rowohlts monographien), 184.
  • Weischedel, Wilhelm: 2010: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken. München: dtv, 292-310.

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Werte aus der Sicht eines Samurai https://www.abenteuer-philosophie.com/werte-aus-der-sicht-eines-samurai/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=werte-aus-der-sicht-eines-samurai https://www.abenteuer-philosophie.com/werte-aus-der-sicht-eines-samurai/#respond Tue, 27 Mar 2018 11:53:13 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=1409 Magazin Abenteuer Philosophie

Unser Verständnis von Werten, welches unsere Gesellschaft und unser Denken heute stark durchdringt, beinhaltet ein Vorurteil, welches als solches kaum mehr diskutiert wird. Es lautet: Werte müssen nützlich sein. Warum sonst sollten wir sie brauchen?

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Diese Sichtweise ist heute so verbreitet, dass sich viele gar keinen anderen Sinn von Werten mehr vorstellen können. Daher gilt es, dieses Vorurteil einmal kritisch zu beleuchten. Denn wie wir sehen werden, ist es keineswegs selbstverständlich.

Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache, schrieb Ludwig Wittgenstein. Dies ist ein sehr wichtiges Rezept zum phänomenologischen Verständnis dessen, was wir mit Begriffen meinen. Wenn wir verstehen möchten, welche Funktion Werte für den Menschen heute erfüllen, so ist es interessant, wie wir sie kommunizieren.

Der Mensch in unserer Gesellschaft bewegt sich in einem Umfeld , in dem der Wert von Handlungen und Gütern in erster Linie an ihrem Preis bemessen wird.. Die Marktlogik ist mittlerweile in Bereiche vorgedrungen, die zuvor durch marktferne Werte geregelt waren wie etwa Bildung, Gesundheit, persönliche Beziehungen, Strafjustiz oder Umweltschutz. Der US-amerikanische Philosoph Michael Sandel analysiert dies als Übergang von einer Gesellschaft mit Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft, in der letztlich alles als Ware gesehen und gehandelt wird. Es sind hier Marktlogik und Marktwerte, die alle gesellschaftlichen Beziehungen bestimmen. Diese Umstände suggerieren tagtäglich, was sich mehr und mehr als Tatsache des Bewusstseins in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat: Was überhauptwertvoll sein kann, das muss auch einen Preis haben. Die Illusion, dass alles eine marktfähige Ware sei, die privat besessen werden kann, entspricht genau jener ökonomischen Realität, an die wir uns zunehmend angepasst haben. Wir sind heute förmlich konditioniert zu einer instrumentellen Rationalität, die den Wert von Werten an sich nicht mehr schätzen kann. Der Wert von Arbeit, Bildung, Freundschaft, Demokratie oder Toleranz bemisst sich so letztendlich nur mehr an seinem praktischen Nutzen, womit natürlich eine gewisse Entfremdung des Menschen zu sich selbst, seiner Umwelt und zu seinen Werten einhergeht.

Für den Samurai hingegen sind Werte etwas völlig anderes. Vor allem würde er den Wert von Werten niemals an ihrem äußeren Nutzen bemessen. Aus seiner Sicht entspricht dies der Wahrnehmung von Kleingeistern, deren Begriff von Werten pervertiert und deren Sinn für das Gute degeneriert ist. Für den Samurai erschließt sich der wahre Wert von Werten aus einer rein privaten, religiösen Beziehung zu diesen. Das Entscheidende an der seelischen Beziehung des Samurai zu seinen Werten, ist, dass er ihnen selbst eine unveräußerliche Würde zuspricht, die  durch keinerlei äußere Güter aufgewogen werden könnte. Dieser Gedanke ist uns in unserer gegenwärtigen Kultur völlig fremd. Wir wissen heute Menschen und schon seltener Tiere zu würdigen, nicht aber Werte an sich. Der Samurai aber verehrt und respektiert seine Werte wie einen Gott.

Und das ist ein wichtiger Unterschied zu dem modernen Menschen heute: Der Samurai dient seinen Werten, weil er sie liebt und verehrt. Er unterwirft diesen seine ganze Lebenspraxis. Der heutige Mensch dagegen respektiert Werte nur, wenn sie ihm irgendwie praktisch nützlich sind, wenn also umgekehrt, die Werte ihm dienen, um materielle oder soziale Vorteile zu gewinnen. Sein Wertbezug ist pragmatisch und opportunistisch, der des Samurai ist rein ideell und identitätsstiftend.

Die Ansicht Platons, dass es schlimmer sei, Unrecht zu tun als Unrecht zu erleiden, weil ersteres der eigenen Seele weit mehr schade, ist dem heutigen Menschen eher fremd. Der Samurai aber weiß instinktiv, was das bedeutet, weil er über einen ethischen Instinkt verfügt, der vielen Menschen heute zu fehlen scheint. Mit einem von ihm verehrten Wert zu brechen, würde er als Hochverrat empfinden, der ihn seiner Würde als Mensch beraubt. Er will sich reines Gewissens im Spiegel wiedererkennen als der, der er sein möchte: ein Samurai. Für ihn gibt es daher kaum Schlimmeres, als jene Würde nicht mehr zu verdienen, die ihn aus seiner Sicht erst zum Samurai macht.

Würde ist für ihn schließlich nicht etwas das jedem Menschen von vornherein zukommt. Man muss sich diese gewissermaßen erst verdienen. Der Samurai darf sich daher zu Recht als Samurai verstehen, der moderne Mensch dagegen nicht, weil seine Würde beliebig ist. Zugleich ist er leicht korrumpierbar durch sein nutzenorientiertes Werteverständnis. Es gilt ihm nur das als Wert, was und solange es ihm auch nützlich ist und das ist immer von äußeren Umständen abhängig. Mit jenem modernen Werteverständnis einher gehen Charakterdefizite wie etwa Willensschwäche, Disziplinlosigkeit und vor allem Fremdbestimmtheit.

Ganz anders verhält es sich beim Samurai. Der konsequente Dienst an seinen Werten, die Loyalität zu diesen, die er sich im Handeln tagtäglich beweisen muss, disziplinieren seinen Charakter. Er ist sich selbst notwendigerweise immer Rechenschaft schuldig für sein Handeln, da er ansonsten befürchten muss, etwas zu verlieren, das für viele heute keinen Wert mehr hat: Selbstachtung. Hier geht es um eine zu erarbeitende Wertschätzung der eigenen Personsich selbst gegenüber, die vielen Menschen heute nutzlos erscheint. Doch auch das hat seinen „Preis“, denn ein Mensch, dessen Urteilsvermögen durch äußere Einflüsse leicht irritierbar ist, kann weder wahrhaftig noch wirklich frei sein, da er nicht fähig ist, seinem Willen konsequent zu folgen. Er wird immer dazu neigen, äußere Vorteile mehr zu schätzen, als den ehrlichen Dienst an seinen Werten und so wird er sie hintergehen. Genau das ist der Ursprung von Lüge und Korruption. Wer seine Werthaltungen äußeren Umständen anpasst, um dadurch beliebige Vorteile zu gewinnen, ökonomisiert seine Überzeugungen und sein Wesen.

Dem Samurai dagegen geht es immer darum, etwas nicht zu verlieren, nämlich den Respekt vor sich selbst, wenn er radikal ehrlich zu sich ist. Und das  ist man immer dann zu sich, wenn man Rechenschaft ablegt vor jenem Teil in uns, den wir nicht belügen können: unserer Seele. Denn der wahre Wert von Werten konstituiert sich niemals aus ihrem äußeren Nutzen.

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„Sei wie ein Fels …“ https://www.abenteuer-philosophie.com/marcus-aurelius-fels/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=marcus-aurelius-fels https://www.abenteuer-philosophie.com/marcus-aurelius-fels/#respond Fri, 26 May 2017 06:37:31 +0000 https://www.abenteuer-philosophie.com/?p=1379 Magazin Abenteuer Philosophie

"... an dem sich beständig die Wellen brechen! Er steht fest und dämpft die Wut der ihn umbrausenden Wogen! Ich Unglücklicher sagt jemand, dass mir dieses Schicksal widerfahren musste! Nicht doch, sondern glücklich bin ich, dass ich trotz dieses Schicksals kummerlos bleibe, weder von der Gegenwart gebeugt noch von der Zukunft geängstigt!“ Marcus Aurelius Antoninus (120–180 n. Chr.)

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Sei wie ein Fels an dem sich beständig die Wellen brechen! Er steht fest und dämpft die Wut der ihn umbrausenden Wogen! Ich Unglücklicher sagt jemand, dass mir dieses Schicksal widerfahren musste! Nicht doch, sondern glücklich bin ich, dass ich trotz dieses Schicksals kummerlos bleibe, weder von der Gegenwart gebeugt noch von der Zukunft geängstigt!

Marcus Aurelius Antoninus (120–180 n. Chr.)

Es ist etwas typisch Menschliches, durch den korrumpierenden Einfluss von Reichtum und politischer Macht mit der Zeit sich dramatisch zu verändern. Wie viele solcher Beispiele gab es bislang in der Geschichte – und wie wenige echte Vorbilder auf der anderen Seite? Nämlich Menschen mit Charakterstärke, die Machtfülle mit Weisheit, Selbstdisziplin und Prinzipientreue verbanden und nicht korrumpiert werden konnten? Es sind gerade die Charaktertugenden der Demut, Mäßigung, Dankbarkeit und Wertschätzung, die Menschen in Machtpositionen leicht verlieren, bevor sie endgültig der Machtgier verfallen. Anders war dies bei Marcus Aurelius. Einst war er römischer Kaiser und mächtigster Mann der Welt. Von 161-180 n . n. Chr. lenkte er die Geschicke des Römischen Reichs und tat dies mit unvergleichlicher Disziplin und Willen, an sich zu arbeiten. Das Einmalige an ihm war, dass er auf Selbsterziehung und charakterliche Vervollkommnung mehr Wert legte als auf alles andere, das wir im Leben erwerben können. Seiner Verantwortung war er sich dabei mehr bewusst als jeder andere Kaiser, da er glaubte, dass es seine kosmische Bestimmung und Pflicht sei, dem Gemeinwohl bestmöglich zu dienen. Diese Überzeugung entstammte seiner stoischen Weltanschauung und seinem Glauben an die heimarmene (Vorsehung). Denn er gehörte einer philosophischen Tradition an, die die rechte Lebensweise samt Disziplinierung des eigenen Charakters zum obersten Gebot ihrer Ethik machte: die Stoa. „ARBEIT AN SICH SELBST“ – was für eine Leerformel ist das heute geworden – und was hat dies noch im Leben des Marcus Aurelius bedeutet. Konkret nachvollziehbar wird dies in den „Selbstbetrachtungen“ des Kaisers, die er in den Feldlagern seiner Soldaten an der Front verfasste. Die letzten 14 Jahre seines Lebens verbrachte er fast durchgehend im Krieg gegen die im Norden des Reichs eindringenden Quaden, Jazygen und Markomannen. Da er es für seine Pflicht hielt, seinen Soldaten beizustehen, weilte er meist unter ihnen. In dieser ungewissen und tristen Lage verfasste er seine Selbstbetrachtungen (eisheauton). Dabei handelt es sich um eine Art innere Unterredung, in denen sich Marcus Aurelius immer wieder ermahnt, am rechten Weg festzuhalten, nicht dem Cäsarenwahn zu verfallen, nicht zu jammern, sondern dankbar zu bleiben und nach bestem Gewissen gerechte Entscheidungen zu treffen. Denn sein größtes Anliegen war ihm das Wohlergehen seines Volkes und die Beherrschung seiner Affekte. Zu diesem Zweck hielt er es für nötig, sich selbst immer wieder zu ermahnen und zu besinnen – letztlich um seine Bestimmung zu erfüllen.

Verkaisere nicht! Nimm einen solchen Anstrich nicht an, denn es geschieht so leicht. Erhalte dich daher einfach, gut, lauter, ernsthaft, gerechtigkeitsliebend, prunklos, gottesfürchtig, wohlwollend, liebevoll, standhaft in der Erfüllung deiner Pflichten. Ringe danach, dass du der Mann bleibest, zu dem dich die Philosophie bilden wollte. Ehre Gott, fördere das Heil der Menschen! Kurz ist das Leben und es gibt nur eine Frucht des irdischen Daseins: eine unsträfliche Gesinnung und gemeinnützige Taten.

Marcus Aurelius

 

Luxus und Ausschweifungen verachtete Marcus Aurelius ebenso wie Trägheit, Eigenlob, Feigheit und Verlogenheit. Und obwohl er häufig von Menschen umgeben war, die genau dazu neigten, bemühte er sich stets, Nachsicht mit ihnen zu haben. Für sein Volk wollte er sogar an der  Front noch als oberstes Organ römischer Rechtsprechung bei Prozessen zur Verfügung stehen. Es handelte sich um Gerichtsprozesse, die sonst in Rom ausgetragen wurden. Da er dort nicht anwesend sein konnte, ihm aber an Gerechtigkeit sehr viel lag, beorderte er einfach die streitenden Parteien zu sich ins Feldlager. Wann immer der Kaiser Zeit dazu fand, bemühte er sich, das Los der Menschen zu erleichtern und für Gerechtigkeit zu sorgen. Davon profitierten besonders Frauen und Sklaven.

Von allem Negativen, das die Nachwelt über ihn berichtet, konnten Marcus Aurelius nur zwei Entscheidungen zur Last gelegt werden: die Entscheidung, seinen Sohn Commodus zum Nachfolger zu bestimmen, womit das Goldene Zeitalter der römischen Kaiserzeit schließlich endete und – wer hätte das gedacht – dass er den Gladiatoren vorschrieb, mit Holzwaffen zu kämpfen. Insgesamt wurde kein Kaiser von der Nachwelt übereinstimmend so positiv dargestellt wie er. Marcus Aurelius war der Liebling der Humanisten und Aufklärer. Voltaire verehrte ihn, Friedrich der Große empfand eine Seelenverwandtschaft mit ihm und selbst Altkanzler Helmut Schmidt fand noch regelmäßig Zuspruch und Trost bei der Lektüre der Selbstbetrachtungen des Kaisers.

 

Literaturhinweis:
  • Marcus Aurelius: 2001. Selbstbetrachtungen. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Albert Wittstock. Stuttgart, Reclam
  • Marc Aurel: 2010. Wege zu sich selbst. Herausgegeben von Alexander Demandt. München: C.H. Beck (Kleine Bibliothek der Weltweisheit 15)
  • Pohlenz, Max: 1992. Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen: Van den Hoeck &Ruprecht, S. 341-353

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