… wenn ich mich nicht irre …

Wahrheit, Lügen, Fake News und Verschwörungstheorien philosophisch betrachtet

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Wer kann sich nicht an dieses berühmte Zitat von Sam Hawkens in den legendären Winnetou-Filmen erinnern? Der Satz tut gut in einer Gesellschaft mit zunehmender Ideologisierung und Moralisierung von Meinungen.

Das Interview mit Geert Keil führte Barbara Fripertinger im Rahmen des Philosophicums Lech 2024

Sie haben Ihren Vortrag beim diesjährigen Philosophicum Lech mit einer Anekdote über den Philosophen Voltaire begonnen: Voltaire unternimmt mit einem Freund eine Landpartie. Die beiden kommen an einer Weide vorbei und sehen eine Schafherde. Der Freund bemerkt: „Sieh mal, die Schafe sind frisch geschoren.“ Darauf Voltaire: „Zumindest von einer Seite.“ Was ist der Störfaktor in dieser Geschichte?

In der Erkenntnistheorie dreht sich der Streit um die Frage, ob Wissen erfordert, alle Täuschungsmöglichkeiten ausschließen zu können.

Geert Keil: Voltaire legt in einer banalen Alltagssituation ein Ausmaß von Skepsis an den Tag, das allenfalls im Philosophieseminar angebracht ist. Wahrscheinlich bezweifelt er gar nicht ernsthaft, dass die Schafe rundum geschoren sind. Sein Punkt ist ein erkenntnistheoretischer: Aufgrund des bloßen Augenscheins lässt sich aus seiner Perspektive nicht aus­schließen, dass die Schafe akkurat allein von der blickzugewandten Seite geschoren sind, so un­wahrscheinlich das sein mag. Man könne also nicht wissen, dass sie ganz geschoren sind. In der Erkenntnistheorie dreht sich der Streit um die Frage, ob Wissen erfordert, alle Täuschungsmöglichkeiten ausschließen zu können.

Können wir immer davon ausgehen, dass Schafe auf allen Seiten geschoren sind?
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Erfordert der Begriff des Wissens das?

Natürlich nicht. Sonst könnten fehlbare Wesen wie wir nichts wissen.

Genau das behauptet der Skeptiker doch …

Genau darin irrt er. Er irrt sich darüber, was Wissen ist. Er fordert für Wissen etwas, das für Menschen unmöglich ist. Man kann sich schon wundern, dass die sogenannte skeptische Herausforderung – verstanden als die Auffassung, dass wir nichts wissen können, wenn unsere Rechtfertigungen nicht die Wahrheit unserer Überzeugungen garantieren – bis heute so viele Erkenntnistheoretiker beschäftigt.

Kommen wir zu den nicht-akademischen Herausforderungen. Wir leben in einer Zeit von Fake News und von mangelndem Vertrauen, manche sagen: in einem postfaktischen Zeitalter. Was können Sie aus erkenntnistheoretischer Sicht dazu sagen?

Menschen haben einander immer schon belogen. Dafür ist erforderlich, dass der Sprecher sich bewusst ist, dass es einen Unterschied zwischen dem geben kann, was der Fall ist – den Tatsachen – und dem, was jemand glaubt. Lügen können allerdings den Fakten nichts anhaben, sie sind vielmehr ein gutes Zeichen: Solange erfolgreich gelogen wird, ist es noch nicht dazu gekommen, dass niemand niemandem mehr glaubt. Der Lügner verhält sich parasitär, er missbraucht das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird.

Was ist dann das Neue?

Neu sind heute die Möglichkeiten, Lügen und Desinformation massenhaft zu verbreiten und diese dabei immer raffinierter zu tarnen.

Was sind überhaupt Lügen?

Darüber haben sich viele Philosophen den Kopf zerbrochen, von Augustinus über Thomas von Aquin, Kant und Bolzano bis in die Gegenwart. Eine präzise Lügendefinition ist verblüffend schwierig anzugeben, weil es so viele Sonderfälle gibt. Ein erster Aufschlag wäre: Der Lügner sagt mit der Absicht, jemand anderen zu täuschen, wissentlich die Unwahrheit. Bei dieser Bestimmung kann es aber schon deshalb nicht bleiben, weil ein Lügner sich darüber irren kann, was wahr ist.

Lügen kann er trotzdem …

Genau. Entscheidend ist nicht, ob er etwas Falsches sagt, sondern dass er die Hörer etwas anderes glauben machen möchte als das, was er selbst glaubt. Der Lügner hat zwei Täuschungsabsichten, die miteinander kombiniert werden: Er möchte erstens, dass die Hörer etwas anderes glauben als er selbst, und zweitens, dass die Hörer ihn für aufrichtig halten. Dabei kann er sein erstes Ziel nur erreichen, indem er das zweite erreicht. Seine Lüge hat nur Erfolg, wenn man ihm glaubt.

In Ihrer Erläuterung ist der Begriff der Wahrheit gar nicht vorgekommen.

Das ist auch gut so. Wichtiger für die Definition der Lüge ist der Begriff der Wahrhaftigkeit. Entscheidend ist, dass der Sprecher nicht glaubt, was er sagt. Ob das Gesagte wahr oder falsch ist, ist sekundär. In den meisten Fällen wird der Lügner etwas Falsches sagen, aber man kann das nicht zum Kriterium machen, weil der Lügner sich, wie gesagt, seinerseits irren könnte.

Welche Rolle spielt denn der Begriff der Wahrheit, wenn wir, wie Sie sagen, Irrtümer niemals sicher ausschließen können?

Das ist eine große Frage. Oft wird argumentiert, etwa von Richard Rorty oder von unseren Studienanfängern: Es gibt doch keinen Gottesstandpunkt, also lassen wir das mal mit dem Pathos der Wahrheits­suche, die Philosophie sollte nach etwas anderem streben. Das ist natürlich ein Fehlschluss. Dass er oft mithilfe der Weisheit „Es gibt keine absolute Wahrheit“ ausgedrückt wird, macht die Sache nicht besser.

Worin besteht der Fehler?

Rorty übersieht die wesentlich negative Rolle des Wahrheitsbegriffs für unser Streben nach Erkenntnis. Wahrheit ist nicht das, was wir sicher treffen, wenn wir gut begründete Überzeugun­gen haben. Wahrheit ist das, was wir verfehlen können, obwohl wir gut begründete Überzeugungen haben, obwohl wir nach allen Regeln der Kunst Wissenschaft betreiben. Die Wahrheit einer Überzeugung hängt nun einmal nicht davon ab, ob sie für wahr gehalten wird. Sie hängt auch nicht von den Gründen ab, aus denen sie für wahr gehalten wird. Etwas, was beliebig viele Menschen beliebig lange mit belie­big guten Grün­den für wahr halten, könnte dennoch falsch sein. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll von Beispielen dafür.

Wie sortieren Sie hier den Begriff der Fake News ein? Was unterscheidet sie von Lügen?

Der Begriff ist zugleich enger und weiter als der der Lüge. Fake News sind wörtlich „gefälschte Nachrichten“. Da nicht jede Lüge einen nachrichtenähnlichen Inhalt hat – denken Sie an eine falsche Antwort auf die Frage „Wo bist du gewesen?“ –, wird man nicht jede beliebige Lüge „Fake News“ nennen. Beiden Phänomenen ist gemein, dass Unaufrichtigkeit im Spiel ist.

Gibt es umgekehrt auch Fake News, die keine Lügen sind?

Ich denke schon. Wenn zum Beispiel jemand eine Falschinformation weiterverbreitet, ohne sie geprüft zu haben, wäre das keine Lüge. Vielleicht ahnt der Sprecher, dass die Information nicht stimmt, sie passt ihm aber gut in den Kram. Wenn ein Politiker gezielt ungeprüfte Gerüchte als Nachrichten ausgibt, um die öffentliche Meinung zu manipulieren, wäre das die Verbreitung von Fake News. Der Ausdruck ist relativ jung und in der sozialen Erkenntnistheorie wird über die beste Definition noch gestritten.

Eine Verschwörungstheorie, könnte man denken, ist schlicht eine Theorie, die das Vorhandensein einer Verschwörung behauptet.

Ein weiteres Schlagwort unserer Zeit sind Verschwörungstheorien. Wie kann man sie erkenntnistheoretisch verorten?

Eine Verschwörung ist Lexikondefinitionen zufolge eine geheime Verabredung oder Zusammenarbeit mindestens zweier Personen gegen jemanden oder etwas. Eine Verschwörungstheorie, könnte man denken, ist schlicht eine Theorie, die das Vorhandensein einer Verschwörung behauptet. Das scheint aber nicht zu stimmen, denn man nennt nicht jede Behauptung dieses Inhalts eine Verschwörungstheorie. Die Behauptung, dass die Verschwörer des 20. Juli 1944 sich verabredet haben, Hitler zu töten, ist beispielsweise keine Verschwörungstheorie, oder?

Weil die Theorie stimmt? Meinen Sie, dass eine Verschwörungstheorie immer falsch sein muss?

Nein. Eine völlig unbelegte, bizarre Behauptung darüber, dass ein bestimmtes Geschehen auf eine Verschwörung zurückgeht, würde man auch dann eine Verschwörungstheorie nennen, wenn die Behauptung zufällig wahr sein sollte. Wir haben hier eine ähnliche Situation wie bei Lügen und Fake News: Es kommt auch hier nicht direkt auf die Unwahrheit an, sondern auf etwas Benachbartes.

Worauf denn?

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist „Verschwörungstheorie“ ein abwertender Ausdruck. Wer einer solchen Theorie anhängt, macht etwas falsch. Der Vorwurf bezieht sich aber nicht auf Unwahrhaftigkeit, anders als bei Lügen. Vertreter von Verschwörungstheorien sind typischerweise von dem überzeugt, was sie behaupten, oft sogar felsenfest: Das World Trade Center ist von innen gesprengt worden, die offizielle Darstellung ist falsch, die Spuren sind vertuscht worden.

Worin besteht also das Problem?

Darin, wie die Anhänger der Theorie zu ihrer Überzeugung gelangen. Sie glauben die Theorie ohne zureichende Belege, sie werten die Beleglage tendenziös aus oder vertrauen unzuverlässigen Quellen. Es ist also der Prozess der Überzeugungsbildung, der schiefläuft. In der Sozialpsychologie wird sogar angenommen, dass es so etwas wie eine „Verschwörungsmentalität“ gibt, die für Verschwörungsglauben anfällig macht.

Sie haben in Ihrem Vortrag von „Kritikimmunisierung“ gesprochen. Was hat es damit auf sich?

Verschwörungstheorien enthalten von vornherein einen Baustein, der sie gegen Einwände abschirmt: Scheinbare Belege, die für die offizielle Darstellung und gegen die Verschwörung sprechen, seien von den Verschwörern fabriziert und gestreut worden. Diese Vertuschungsthese entwertet alle Gegenbelege, die ja durch die angenommene Vertuschung erklärbar sind. Auf diese Strategie der Selbstimmunisierung hat Popper die richtige Antwort gegeben: Eine Theorie muss an der Erfahrung scheitern können, sonst ist sie nichts wert.

Worin besteht hier die große gesellschaftliche Herausforderung?

Massenhaft verbreitete Desinformation wird zur Beeinflussung von Wahlen eingesetzt, zur Diskreditierung politischer Gegner, zur hybriden Kriegsführung und zur Destabilisierung von Demokratien. Dabei geht es nicht nur um Falschnachrichten, sondern auch um manipulierte Bilder, um gefälschte oder irreführende Statistiken, um Propaganda und KI-generierte „Deep Fakes“.

Welche Botschaft möchten Sie den Lesern von abenteuer philosophie mitgeben?

Ich fürchte, das liefe auf Kalendersprüche hinaus. Können wir uns das ersparen? Aber warten Sie, es gibt ein Bonmot des französischen Schriftstellers André Gide: „Wenn ein Philosoph einem antwortet, versteht man überhaupt nicht mehr, was man ihn gefragt hat.“ Ich denke, dass sich dahinter ein Lob der Philosophie verbirgt, obwohl Gide es sicherlich nicht so gemeint hat. Manche Fragen versteht man tatsächlich nicht mehr, wenn man philosophisch über sie nachgedacht hat. Und das kann ein Erkenntnisfortschritt sein: Man versteht im Nachhinein nicht mehr, wie kraus oder nebelhaft man vorher gedacht hat. Die Frage zerrinnt einem zwischen den Fingern. Philosophischer Fortschritt besteht nicht selten darin, schlechte Fragen durch bessere zu ersetzen.

Es gibt nur wenig in der Philosophie, was mich nicht interessiert, und ich habe dabei ein großes Bedürfnis, meine Gedanken so zu ordnen, dass sie einigermaßen zusammenpassen.

Verraten Sie uns noch, warum Sie Philosoph geworden sind?

Ich habe das Fach seinerzeit studiert, weil ich zum Ende meiner Schulzeit philosophische Fragen spannend fand: Wie hängen Geist und Körper zusammen, was können wir wissen, ist Moral Ansichtssache, was unterscheidet Menschen von anderen Tieren? Und dann bin ich hängen geblieben, es sind immer neue Fragen hinzugekommen. Für eine akademische Laufbahn sind das eher schlechte Voraussetzungen, denn in der Forschung muss man in die Tiefe statt in die Breite arbeiten. Mit dieser Balance kämpfe ich bis heute. Es gibt nur wenig in der Philosophie, was mich nicht interessiert, und ich habe dabei ein großes Bedürfnis, meine Gedanken so zu ordnen, dass sie einigermaßen zusammenpassen.

Prof. Dr. Geert Keil: Etwas, was beliebig viele Menschen beliebig lange mit beliebig guten Gründen für wahr halten, könnte dennoch falsch sein
Foto © Kirstin Hauk

Univ. Prof. Dr. Geert Keil, geboren 1963, Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin, hielt beim Philosophicum in Lech 2024 einen Vortrag mit dem Titel: Störfall Skeptizismus: begrüßen, bekämpfen oder ignorieren?

Bildunterschrift zum Buch:
Sein Buch „Wenn ich mich nicht irre“ stand auf der Shortlist für den Tractatus-Preis beim Philosophicum in Lech 2020 

 

 

 

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