Verzeihen & Vergessen

Die Heilkraft des Vergebens

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Dr. Elisabeth Lukas, die Meisterschülerin von Viktor Frankl, erklärt im Interview, warum Negatives sich öfter ins Bewusstsein drängt als Positives, und wie wir die durch erlittenes Leid gewonnene Energie in etwas Positives umwandeln können. Sie verrät auch, was nötig ist, um die Ankerketten zu lösen!

Das Interview mit Dr. Elisabeth Lukas führte Christine Schramm

Die heutige gesellschaftliche Entwicklung reißt immer mehr Gräben zwischen den Menschen auf. Angesichts der Kriegsgeschehen und Spaltungen in der Gesellschaft, rückt verzeihen und vergeben immer mehr in den Vordergrund, damit Friede entstehen kann. Was können Sie uns aus Sicht der Logotherapie dazu sagen?

Lukas: Auch in früheren Gesellschaften gab es verschiedene Meinungen und unterschiedliche Sichtweisen, nur wird dies heute von den Medien mehr hochgespielt.

Vergeben und Dankbarkeit haben aber eine große Heilkraft, was in der Psychologie lange Zeit übersehen wurde. Dabei hat Vergebung einen doppelt guten Effekt: sowohl für den, dem vergeben wird, als auch für den, der vergibt.

„Mein bisheriges Leben ist im KZ gestorben. Mir ist ein zweites Leben geschenkt worden. Ich werde mich bemühen, mich dieses Geschenkes würdig zu erweisen.“ Viktor Frankl

Elisabeth Lukas im Gespräch mit Christine Schramm im Zuge dieses Interviews

Wie ist es Viktor Frankl, dem unsagbares Leid von den Nazis widerfahren ist, gelungen zu vergeben?

Wer nicht verzeiht, geht bucklig durchs Leben und trägt auf seinen Schultern das schwere Gewicht des Grolls oder der Wut über das Geschehene. Er wird einem anderen, vielleicht durchaus zurecht, etwas nachtragen, da er verletzt wurde. Der Akt des Vergebens jedoch hat einen wunderbaren Effekt: man wirft diese Last ab, kann sich aufrichten, lässt Groll, Hass, Wut hinter sich und geht befreit seinen Lebensweg weiter.

Frankl war sich dessen bewusst und war nicht gewillt, sein restliches Leben mit der Last des „Nachtragens“ zu verbringen. Unmittelbar nach seiner Befreiung sagte er sich: „Mein bisheriges Leben ist im KZ gestorben. Es lässt sich so nicht mehr fortsetzen. Mir ist ein zweites Leben geschenkt worden, ein neues Leben und ich werde mich bemühen, mich dieses Geschenkes würdig zu erweisen.“ Hass, Verbitterung oder Zorn passten nicht zu diesem Vorsatz und er entschied, sich seinem Werk zu widmen, das er schon in Ansätzen entwickelt hatte und eine neue Familie aufzubauen.

Dieses Beispiel zeugt von einer enormen Willenskraft, aber nicht alle Menschen verfügen über eine solche.

Aus der Tierwelt wissen wir, dass bei Gefahr oder Schmerz ein Kräftezufluss stattfindet, den Tiere für den Kampf oder zur Flucht nutzen. Eine Gazelle, die vor einem Löwen flieht, muss schnell laufen, denn der Löwe ist auch schnell. Bei einer Leiderfahrung stellt der Organismus auf den Sympathikus um, das Herz klopft schneller, die Augen werden schärfer und Muskeln spannen sich an. Bei Tieren ist es ein Schmerz des Körpers, beim Menschen ist die Leiderfahrung oft ein Schmerz der Seele – aber immer findet ein Kräftezufluss statt. Die Frage ist, wie man diese zusätzliche Energie nützt? Das Tier weiß es instinktiv, aber der Mensch kann diesen Kräftezufluss unterschiedlich nützen. Er kann eine Autoaggression entwickeln und sich betrinken oder in eine reaktive Depression rutschen. Diese Kräfte können auch genützt werden, um Unschuldige zu „schlagen“, was oft passiert. Jemand ärgert sich über A, gegenüber dem er sich aber machtlos fühlt, und schlägt B. Jetzt ärgert sich B und schlägt C. Eine ganze Leidkette entsteht dadurch.

Dieser Kräftezufluss lässt sich auch positiv und konstruktiv nutzen: Indem man eine positive Haltung zu nicht veränderbaren Umständen einnimmt und eine heroische Einstellung entwickelt, sinkt man nicht auf das Niveau dessen, der einen verletzt hat, herab und bewahrt seine Würde.

Wenn Sie also fragen, woher wir die Kraft nehmen, lautet die Antwort: Die Kraft haben wir allemal.  Diejenigen, die ein Leben lang wettern, schimpfen oder mit ihrem Schicksal hadern, verpulvern sie jedoch. Die Natur hat uns diese Kraft geschenkt. Der Mensch hat die Wahl, wofür er sie verwendet.

In dem Wort „vergeben“ steckt das Wort „Gabe“. Was wären die Gaben, die der Mensch braucht, um vergeben zu können und den Kräftezufluss für das Positive zu nutzen?

Eine große Hilfe ist die Dankbarkeit. Immer wo Leid ist, gibt es auch immer Elemente, die es wert sind, sich dafür zu bedanken.

Bei Frankl war es schlichtweg, dass er überlebt hat, auch wenn es so schien, dass er alles verloren hätte. In Wirklichkeit hatte er sein ganzes Wissen und seine Fähigkeiten als Arzt immer noch. Er hatte noch Freunde in Wien, die ihm halfen, eine Stelle zu finden. Er hatte körperlich und physisch die Möglichkeit, wieder ein Leben aufzubauen und sein Werk weiterzuentwickeln und zu vollenden. Es waren also viele Gaben da.

Wer eine positive Haltung zu nicht veränderbaren Umständen einnimmt und eine heroische Einstellung entwickelt, bewahrt seine Würde.

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Warum ist es für uns Menschen so schwierig, das Positive – die „Gaben“, die wir haben – zu sehen?

Das Negative drängt sich viel mehr ins Bewusstsein – auch das ist ein Naturprinzip. Wenn etwas Negatives passiert, tun wir alles, um es zu beseitigen und wenn etwas Positives passiert, brauchen wir gar nichts tun. Deswegen wird einem das Positive nicht so schnell bewusst. Die hungrige Katze merkt beispielsweise, dass sie hungrig ist, aber die satte Katze merkt nicht, dass sie satt ist.

Auch beim Wandern drängt sich Ihnen Ihre Ferse ins Bewusstsein, wenn Sie eine schmerzende Blase haben. Im Gegensatz dazu denken Sie ohne Blase an vieles andere, nur nicht an Ihre heile Ferse. Negatives drängt sich uns ins Bewusstsein. Das spielt auch beim Vergessen eine Rolle, wo wir Gutes sehr viel schneller als Schlechtes vergessen. So erfordert Vergeben, zu sehen, dass immer auch Gutes vorhanden war.

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Was sagen Sie zur großen Schwierigkeit, sich selbst zu verzeihen?

Die Unfähigkeit, anderen zu verzeihen, ist eng damit verknüpft, sich selbst nicht verzeihen zu können. Wer milde, großherzig und gütig ist, wer einmal ein Auge zudrückt und barmherzig zu den anderen ist, der ist auch barmherzig zu sich. Menschen schwächeln einfach. Sie reagieren manchmal spontan, unüberlegt und haben auch ihre Schattenseiten. Das gehört dazu, wir sind ja nicht als Engel geboren. Wenn ich mich darin übe, anderen zu vergeben, fällt es mir auch leichter bei mir selbst.

Menschen, die sich selbst nicht verzeihen können, leiden an Schuldgefühlen …

Es gibt einen Unterschied zwischen Schuldgefühl und Schuldbewusstsein. Schuldgefühle können völlig irrational und überzogen sein. Um wirklich schuldig zu werden, benötigt es eine Wahlfreiheit und ein Sinnbewusstsein. Existenzielle Schuld entsteht, wenn ich weiß, was das Richtige wäre und bewusst eine Handlung gegen den Sinn wähle. Wenn man nicht wusste, was das Sinnvollere, Bessere gewesen wäre und es passiert ein Malheur, kann man traurig sein, aber die Schuldgefühle müssen über Bord geworfen werden.

Es gibt zwei Raubtiere, die dem Menschen die Gegenwart wegfressen: Das eine ist der Hader mit der Vergangenheit, und das andere die Angst vor der Zukunft.

Aber das ist schwierig …

Niemand kann dem Menschen die Schwierigkeiten des Lebens abnehmen. Schwierigkeiten und Probleme gehören zu einem ganz normalen Leben dazu. Wir sind ständig herausgefordert, uns irgendwelchen Problemen zu stellen und eben das Beste aus der Situation zu machen. Es wäre gar nicht gut, wenn man versuchte, den Menschen alle Schwierigkeiten abzunehmen, denn damit tut man ihnen keinen Gefallen. Sie verweichlichen, sie verlieren an Lebensqualität, denn die Herausforderungen, die das Leben an uns stellt, machen uns souverän und stärker. Man muss sich den Herausforderungen stellen.

Was können Sie unseren Lesern über das Vergessen und über die Gefahr des Verdrängens sagen?

Das normale Vergessen ist an und für sich enorm wichtig für die seelische Gesundheit. Es bedeutet, dass etwas abgelegt wird, was jetzt nicht relevant ist und man kann sich besser auf das Aktuelle und Gegenwärtige konzentrieren. Auch zu Hause muss ich von den 100 Dingen am Tisch einige in eine Schublade wegpacken, um mich auf die aktuelle Mappe und die Gegenwart konzentrieren zu können. Und so muss ich es auch im Leben machen. Wie hätte die Generation unserer Väter, die aus dem Krieg zurückkehrte, in ihrem weiteren Leben einen Beruf ausüben oder sich an Geburtstagsfesten erfreuen können, wenn sie immer die Kriegserlebnisse vor Augen gehabt hätte? Man muss auch etwas wegpacken können, um sich voll und ganz auf die Gegenwart zu konzentrieren und sich mit Hingabe den Anforderungen des Augenblicks, dem Jetzt, zu widmen.

Haben nicht viele dieser Männer ihre Erlebnisse verschwiegen, sich verschlossen und vielleicht die Erinnerungen mit Alkohol betäubt?

Nein, das ist etwas anderes. Sie haben es schon teilweise weggepackt. Doch wenn die Gegenwart leerer wird, wenn man beispielsweise in Pension geht und nicht so recht weiß, was man machen soll, dann kriechen diese Dinge aus dem Speicher der Erinnerung wieder hervor. Und wieder drängen sich die negativen Dinge viel stärker als die positiven ins Bewusstsein.

Es gibt zwei Raubtiere, die dem Menschen die Gegenwart wegfressen: Das eine ist der Hader mit der Vergangenheit, bei dem man immer wieder zurückblickt und sich über das ärgert, was geschehen ist. So fährt man mit Halbmast durch die Gegenwart, wodurch Fehler passieren, die ein neuerlicher Grund sind, sich über die Vergangenheit zu ärgern. Das andere Raubtier ist die Angst vor der Zukunft: die Sorge, ob man scheitern wird, ob man den Erwartungen anderer gerecht wird und was noch alles auf einen zukommen könnte. Wieder lebt man nicht vollständig in der Gegenwart und es könnten Fehler passieren, die eine schlechtere Zukunft nach sich ziehen. Daher ist es wichtig im Leben, sich ganz der Gegenwart hinzugeben und sich einer sinnvollen Aufgabe im Hier und Jetzt zu widmen.

In Bezug auf die Erinnerungen gilt es auch zu bedenken, dass das Gedächtnis nicht wie ein fotografischer Film funktioniert, der Ereignisse unverändert wiedergibt. Man erinnert sich nur an Ausschnitte und vieles wird vergessen. Aus diesen verschiedenen Ausschnitten baut man sich seinen eigenen Film von der Vergangenheit, der auch noch durch gegenwärtige Einflüsse verfälscht werden kann. So erinnert man sich nach 40 Jahren wohl an eine verpatzte Schularbeit und nicht an die zahlreichen erfolgreich absolvierten Prüfungen. Das bedeutet, dass auch positive Erlebnisse sehr oft verdrängt und vergessen werden.

So wie ein Schiff im Hafen gebaut wird, wächst ein Kind im Schoße der Familie auf. Das Schiff kann nicht hinaus aufs offene Meer, solange es noch angekettet ist. Diese Ankerketten können nur mit Vergebung und Dankbarkeit gekappt werden.

Welche Botschaft können Sie unseren Lesern als Beitrag zur Heilung der Welt mitgeben?

Junge Menschen müssen sich von ihren Eltern abnabeln und ins eigene Leben gehen. Das gelingt nur dann gut, wenn sie zuerst den Eltern all das verzeihen, was jene falsch gemacht haben. Alle Eltern machen Fehler, denn keinem gelingt eine ideale Erziehung. Und dann sollte man seinen Eltern wirklich danken für das, was sie für einen getan haben. Alle Eltern leisten irgendetwas für ihre Kinder und sei es nur, ihnen das Leben zu schenken oder oft noch viel mehr, so gut sie es eben können.

So wie ein Schiff im Hafen gebaut wird, um aufs offene Meer hinauszufahren, wächst ein Kind im Schoße der Familie auf. Das fertige Schiff kann nicht hinaus aufs offene Meer, solange es noch angekettet ist. Diese Ankerketten können nur mit dem Akt der Vergebung und der Dankbarkeit gekappt werden.

Erst jetzt kann die nächste Generation in die Zukunft segeln, ihren eigenen Weg gehen und versuchen, es besser zu machen Adobe Stock: FILE #: 448504504

Allgemeiner gesprochen gilt das auch angesichts der vielen Probleme in der heutigen Welt. Junge Menschen sollten die Welt versöhnlicher betrachten, ihren Zorn bändigen und zugleich dankbar für die Gaben sein, die sie trotz allem haben. Noch haben wir viele Ressourcen auf unserer Erde, wir sind mit einem bemerkenswerten Verstand ausgestattet und es gibt immer noch zahlreiche Länder, die viel zum Leben haben. Wenn man da nicht Dankbarkeit zeigt, kommt man vom Groll nicht los.

Die Ankerketten müssen gelöst werden, um aufs offene Meer hinausfahren zu können. Erst dann kann die nächste Generation in die Zukunft segeln und sagen: „So und jetzt finden wir unseren eigenen Weg, fahren zu unseren eigenen Ufern und Zielen und versuchen, es besser zu machen.“


ELISABETH LUKAS (DR.), geboren 1942 in Wien, ist eine der bekanntesten Nachfolgerinnen von Viktor E. Frankl, dem Gründer der Logotherapie, der sinnzentrierten Psychotherapie. Als klinische Psychologin spezialisierte sie sich auf die praktische Anwendung der Logotherapie und entwickelte diese methodisch weiter. Zusätzlich zu ihrer Lehrtätigkeit veröffentlichte sie mehr als 30 Bücher, die in 20 Sprachen übersetzt wurden. Zu dem Interview mit abenteuer philosophie erklärte sie sich sofort gerne bereit. Herzlichen Dank!

„In der Psychologie wurde es lange Zeit übersehen: Vergeben hat eine große Heilkraft!“ Elisabeth Lukas

CHRISTINE SCHRAMM (MAG. PHARM.) geboren in Wien, war immer schon auf der Suche, wie man die Welt heiler machen kann. Dieser Weg führte sie zur Pharmazie, Homöopathie, Sozialarbeit und schon bald zur praktischen Philosophie im Treffpunkt Philosophie Neue Akropolis. Hier fand sie die besten Antworten auf ihre Fragen und leitete über 20 Jahre ehrenamtlich den Vereinssitz in Wien. Zurzeit absolviert sie den Lehrgang für Logopädagogik im Viktor-Frankl-Zentrum Wien. Für abenteuer philosophie schrieb sie mittlerweile 16 Artikel und drei Buchempfehlungen: über Paracelsus, die Geschichte der Medizin, die Sprache der Metalle, Kooperation und Ordnung …

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