Flucht in die Freiheit – und in den Tod
Humor und Optimismus
Walter Benjamin, Denker zwischen Marx und Mystik
anlässlich seines 130. Geburtstages
Mehr noch als sich selbst wollte Walter Benjamin sein letztes Werk retten, als er 1940 zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien floh. Er starb einen Tag nach seiner Ankunft unter immer noch ungeklärten Umständen. Das Werk, das er in einer Aktentasche bei sich trug, ist verschollen…
„Die Welt gerät aus den Fugen, aber Benjamins Höflichkeit ist unerschütterlich.“ Das war Lisa Fittkos erster Gedanke, als der „alte Benjamin“, wie sie ihn nannte, unerwartet vor ihrer Tür stand und sagte: „Gnädige Frau, entschuldigen Sie bitte die Störung. Hoffentlich komme ich nicht ungelegen.“
Der „alte Benjamin“ war in diesem September 1940 zwar erst 48 Jahre alt, aber schwer herzkrank. Und er war in Panik. Seit 1933 lebte er im französischen Exil. Er, der jüdische Intellektuelle, Geschichtsphilosoph, Essayist und Denker zwischen Politik und Mystik, zwischen Marx und Kabbala. Nun hatten die Nazis einen Teil Frankreichs besetzt und in der Vichyregierung willige Helfer gefunden. Alle von den Nazis gesuchten Personen sollten ausgeliefert werden. Damit war das Exilland Frankreich zur Falle geworden.
Der „alte Benjamin“ mit seinem spanischen Hofzeremoniell
Benjamin war von Lisas Mann Hans nach Banyuls-sur-Mer geschickt worden, einer Kleinstadt an der französischen Mittelmeerküste, unweit der spanischen Grenze. Dort hatte Lisa einen Weg über die Pyrenäen, einen alten Schmugglerpfad, ausgekundschaftet. Lisa, eine Jüdin, und ihr „arischer“ Mann, waren Antifaschisten der ersten Stunde. Sie waren politisch aktiv, d.h., sie waren diszipliniert, vernetzt und ließen sich kein X für ein U vormachen. Nun war auch ihnen in Frankreich der Boden unter den Füßen zu heiß geworden. Sie hatten bereits alle Ausreisepapiere zusammen und eine Schiffspassage von Lissabon nach Panama gebucht. Da stand plötzlich Walter Benjamin vor der Tür.
Der erste Erkundungsgang, auf den Lisa noch eine Frau und ihren 16-jährigen Sohn mitnahm, sollte wie ein Ausflug aussehen. „Um Himmels willen nur keinen Rucksack mitnehmen“, hatte Lisa ihnen eingeschärft. Der Rucksack war sozusagen das Wahrzeichen der Deutschen. Einen Rucksack hatten sie nicht dabei, aber Benjamin kam mit seiner schweren Aktentasche. „Das Manuskript muss gerettet werden. Es ist wichtiger als meine Person“, sagte er. Als die kleine Gruppe sich den verschlungenen Pfad durch die Weinberge eingeprägt hatte und wieder umkehren wollte, blieb Benjamin liegen und erklärte höflich, aber kategorisch, er werde die Nacht hier verbringen. Er habe zwar nichts zu essen und nichts zum Zudecken, aber wenn er zurückginge und am folgenden Tag dieselbe Strecke und die restlichen zwei Drittel des Weges auch noch zurücklegen müsse, dann würde sein Herz wahrscheinlich nicht durchhalten. Er müsse unbedingt die Grenze überqueren, damit er und sein Manuskript nicht der Gestapo in die Hände fielen. Tatsächlich fanden die Drei Benjamin am nächsten Morgen in verhältnismäßig guter Verfassung.
„Das Manuskript muss gerettet werden. Es ist wichtiger als meine Person“, sagte Walter Benjamin mit seiner schweren Aktentasche in der Hand.
Benjamin wanderte langsam und gleichmäßig und legte regelmäßig kurze Pausen ein. Das Gehen musste ihm ungeheuer schwerfallen und Lisa bewunderte seine Disziplin. Sie schreibt in ihrer Biografie: „Was für ein merkwürdiger Mensch. Kristallklares Denken, eine unbeugsame innere Kraft und dabei ein hoffnungsloser Tollpatsch.“ Tatsächlich war seine Unfähigkeit, mit den praktischen Lebensanforderungen zurechtzukommen, sprichwörtlich. In dem Sammellager, in dem Walter Benjamin wie alle deutschen Flüchtlinge nach Kriegsausbruch interniert worden war, hatte er unter einer Treppe gelebt und war von einem anderen Gefangenen versorgt worden. „Ein Heiliger in seiner Höhle, betreut von einem Engel“, wie jemand beschrieb. Auch damals schon fiel die Gelassenheit auf, mit der Benjamin alle Widrigkeiten ertrug. Sein Beitrag zum Leben in Gefangenschaft war ein Philosophiekurs für Fortgeschrittene!
Der Weg in den Untergang
Aus diesem ersten Internierungslager war er dank der Intervention von Freunden noch einmal freigekommen. Aber jetzt ging es um Leben oder Tod. Auf dem Weg über die Berge kam es zu einem Zwischenfall, der Benjamins Verfassung zeigte. Lisa versuchte, ihn davon abzuhalten, aus einem grünlich-stinkenden Wassertümpel zu trinken. „Sie kriegen Typhus!“ Und er: „Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, dass ich Typhus kriege, aber erst nachdem ich die Grenze überschritten habe und mein Manuskript gerettet ist. Sie müssen schon entschuldigen, gnädige Frau.“ Und Lisa Fittko schreibt im Rückblick auf diese Szene: „Ja, so war er, der alte Benjamin mit seinem spanischen Hofzeremoniell.“
Am höchsten Punkt des Weges, von dem aus man schon die Zollstation und den spanischen Grenzort Portbou sehen konnte, machte Lisa beschwingt kehrt. Sie glaubte ihre „Gäste“ gerettet. Doch kurz vorher hatten sich die Bestimmungen wieder einmal geändert. Die spanischen Grenzer verlangten jetzt französische Ausreisepapiere, die keiner der Drei vorweisen konnte. Man sagte ihnen, dass sie sich die Nacht über in einem Hotel ausruhen könnten, dass sie dann aber wieder zurückgeschickt würden. Als man Walter Benjamin am nächsten Morgen tot auffand, waren die Spanier so erschüttert, dass sie Mutter und Sohn weiterreisen ließen. Obwohl immer wieder Zweifel an der Todesursache aufkommen, ist die Vermutung, Benjamin habe aus Verzweiflung seinen ganzen Vorrat an Morphintabletten geschluckt, immer noch am wahrscheinlichsten. Von der Aktentasche und ihrem Inhalt, der Benjamin so am Herzen lag, fehlt seitdem jede Spur.
Wer war Walter Benjamin? Essayist, Literatur- und Filmkritiker, Übersetzer und Philosoph. Vielleicht: ein Denker zwischen Politik und Mystik, ein Sprachphilosoph …
Die Bestimmung, die Walter Benjamin das Leben gekostet hatte, wurde bald wieder aufgehoben und Lisa und Hans konnten noch viele Menschen auf dem Weg, der jetzt „Route Fittko“ heißt, über die Grenze nach Spanien bringen. Welchen Mut, auch Wagemut, welche Kaltblütigkeit und Warmherzigkeit sie an den Tag gelegt hatten! Deswegen, und weil wir die näheren Umstände von Benjamins Weg über die Pyrenäen vor allem aus Lisas Biografie kennen, sei noch auf ihren weiteren Lebensweg verwiesen. Auch dem Ehepaar Fittko gelang in letzter Minute die Flucht über Spanien und Lissabon nach Kuba. Eigentlich hatten sie nach Deutschland zurückkehren wollen, um das Land demokratisch wieder aufzubauen. Als Hans schwer erkrankte, reisten sie in der Hoffnung auf Heilung in die USA, wo Lisas Bruder, ein Physiker, lebte. Dort sind beide gestorben; Hans 1960 und Lisa 2005.
Walter Benjamin wurde auf dem Friedhof von Portbou beerdigt. Ein schöner Ort. Er liegt dem Wind und der Sonne ausgesetzt hoch über dem Meer, aber ein Grab gibt es nicht. Nur einen Gedenkstein, auf dem Besucher nach jüdischer Tradition Steine ablegen. Fünf Jahre nach seinem Tod waren seine Gebeine in ein Massengrab versenkt worden. Kein Grab, keine Aktentasche, kein Manuskript. Also nichts?
Ein Denkmal aus „Stahl, Glas, Wellen, Fels, Wind und Oliven“
Sehr viel. Auf Anregung des damaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker schuf der israelische Künstler Dani Karavan (* 1930 in Tel Aviv) ein Monument, das, so der Künstler, aus „Stahl, Glas, Wellen, Fels, Wind und Oliven“ besteht. Es wurde 1994 eingeweiht. Die Oliven beziehen sich auf einen Olivenbaum, der in der Nähe der Friedhofsmauer wächst und ganz klar in die Konstruktion mit einbezogen wurde. Der Hauptteil des Denkmals ist ein 33 Meter langer Stahltunnel, der sich den Berghang hinunter zum Meer zieht. Er heißt „Passagen“ und bezieht sich sowohl auf Benjamins „Passage“ über die Pyrenäen als auch auf sein Werk mit demselben Titel. Knapp über der Meeresoberfläche schließt eine Glasscheibe den Tunnel ab. Darauf eingraviert ein Zitat des Philosophen: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.“ Manchmal ist es auch schwer, das Gedächtnis der Berühmten zu ehren. Hier ist es gelungen.
Walter Benjamin und der sprechende Baum
Der Zugang zu Walter Benjamin (*15.7.1892 in Berlin, gestorben 1940 in Portbou, Spanien) ist nicht ganz leicht. Selbst die Beantwortung der Frage „Wer war Walter Benjamin?“ ist nicht einfach: Essayist, Literatur- und Filmkritiker, Übersetzer und Philosoph. Und was für ein Philosoph? Ein „Denker zwischen Saturn und Mickey Mouse“? (Titel eines Buches von Jean-Michel Palmier über W.B.) Ein Marxist mit mystizistischem Einschlag? Vielleicht: ein Denker zwischen Politik und Mystik, ein Sprachphilosoph, der sich in metaphysisch-mystischer Sprachtradition auf die Schöpfungssprache Gottes bezog, jedenfalls einer der einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jh.
Im Jahr 1932 war Benjamin noch weitgehend unbekannt, lebte in ärmlichen Verhältnissen auf Ibiza und kämpfte mit einer anhaltenden Depression. In seinen „Denkbildern“ (erschienen 1974 bei Suhrkamp) schildert er unter dem Titel „Der Baum und die Sprache“ folgende Begebenheit, die mir eine erste Begegnung mit Benjamin ermöglicht hat:
Kein Grab, keine Aktentasche, kein Manuskript …
„Ich stieg eine Böschung hinan und legte mich unter einen Baum. Der Baum war eine Pappel oder eine Erle. Warum ich seine Gattung nicht behalten habe? Weil, während ich ins Laubwerk sah und seiner Bewegung folgte, mit einmal in mir die Sprache dergestalt von ihm ergriffen wurde, dass sie augenblicklich die uralte Vermählung mit dem Baum in meinem Beisein noch einmal vollzog. Die Äste und mit ihnen auch der Wipfel wogen sich erwägend oder bogen sich ablehnend, – die Zweige zeigten sich zuneigend oder hochfahrend, – das Laub sträubte sich gegen einen rauhen Luftzug, erschauerte vor ihm oder kam ihm entgegen; der Stamm verfügte über seinen guten Grund, auf dem er fußte; und ein Blatt warf seinen Schatten auf das andre. Ein leiser Wind spielte zur Hochzeit auf und trug alsbald die schnell entsprungenen Kinder dieses Betts als Bilderrede unter alle Welt.“
Das ist eine mit Magie aufgeladene Szene (und das „magische“ Element in Benjamins Sprachphilosophie wurde auch vielfach kritisiert). Wir können uns einen heißen, trockenen Tag am Mittelmeer vorstellen. W.B. macht einen Ausflug oder vertritt sich die Beine, wir wissen es nicht. Und da steht dieser Baum, der zunächst einfach nur Schatten verheißt. Aber plötzlich wird W.B. Zeuge der „Vermählung“ zwischen Baum und Sprache. Der Sprechende – der Baum – und seine Sprache werden eins. Sie sind nicht mehr getrennt, wie das bei der menschlichen Sprache nach dem Sündenfall ist. Hier müssen wir uns vom Einfühlen verabschieden und uns dem benjaminschen Begriff der „reinen Sprache“ anvertrauen. Sprache ist für W. B. die Mitteilung des geistigen Inhalts in allen Dingen, der belebten wie auch der unbelebten Natur, und die menschliche Sprache ist darunter nur eine von vielen. Oder anders formuliert: Das, was mitgeteilt werden kann, ist die Sprache (nicht: wird durch Sprache ausgedrückt). Der Baum hat keine Botschaft; er ist seine Sprache und W.B. konnte in einem Moment der Erleuchtung diese Sprache „verstehen“. Diese Erfahrung war für ihn ein solcher Glücksmoment, dass er ihm das Weiterleben ermöglicht hat.
Literaturhinweis:
Lisa Fittko, Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41. Veröffentlicht 1985
Hat dir dieser Artikel gefallen?
Bestelle diese Ausgabe oder abonniere ein Abo. Viel Inspiration und Freude beim Lesen.