Wo wohnt die Seele?

Sie wieder zu entdecken, tut not

2.014

D

ie Vorstellung einer Seele hat das Abendland und seine größten Geister über Jahrtausende geprägt. Heute wird die Seele vom wissenschaftlichen Diskurs gemieden, ersetzt durch den Begriff des „Selbstes“. Doch Selbstoptimierung führt uns in eine andere Richtung als Seelenentwicklung. Und der selbstbezogene Mensch führt zu einer anderen Gesellschaft als der auf die Seele bezogene Mensch. Die Wiederentdeckung der Seele wird daher zum Gebot der Stunde.

Wo wohnt die Seele?, lässt sich ganz unterschiedlich lesen: zunächst mit der Betonung auf wo. Wo prinzipiell, an welchem Ort in uns bzw. in der Welt lebt die Seele? Bei all den unterschiedlichen Betrachtungen und Deutungen quer durch Zeiten, Kulturen und Religionen gilt die Seele als das belebende Prinzip von allem. Bei Platon besteht der ganze Kosmos aus geordneter Materie umgeben und durchdrungen von der Weltseele. Wie die Weltseele sind auch die Einzelseelen Bindeglied zwischen Geist und Körper, zwischen Sein und Werden. Die Seele ist demnach das Wesen des Menschen, unzerstörbar und unsterblich, wesensverwandt mit den Ideen des Wahren, Guten und Schönen, wodurch sie diese auch erkennen kann. Je mehr sich die Seele jedoch von den reinen Ideen abwendet und dem Körperlich-Sinnlichen hingibt, umso mehr „verunreinigt“ sie sich, lässt sich von Begierden leiten und hält irgendwann nur noch das Körperlich-Sinnliche für wahr. Die Seele wohnt demnach im menschlichen Körper und hat das Potenzial, sich in die höchsten geistigen Sphären zu erheben, genauso wie sich mit den körperlichen Trieben zu identifizieren.

Wo wohnt die Seele?, lässt sich auch mit der Betonung auf das Wohnen lesen: Wo wohnt die Seele, wie ist dieses Zuhause beschaffen? Der Philosoph Jorge Angel Livraga (1930-1991) sieht die Seele in einer Art Gefängnis. In seiner „Theorie der gefangenen Seele“ beschreibt er die Seele – wie in vielen Traditionen – als einen Vogel, der jedoch mit gelähmten Flügeln im Käfig des persönlichen Egos sitzt. Unser Körper, aber auch unsere sinnlichen Wahrnehmungen, unsere emotionalen und mentalen Muster und Gewohnheiten sowie unsere ichbezogenen Wünsche und Bestrebungen bilden die engmaschigen Gitterstäbe eines Gefängnisses, durch die nur wenig zu unserer darin gefangenen Seele durchdringen kann. Nur allzu leicht werden Gefängniswärter und Gefängnisinsasse miteinander verwechselt. Ist das heute viel gepriesene „Selbst“ nicht genau jenes sich selbst behauptende, sich selbst verwirklichende und optimierende, selbstbezogene persönliche Ego, also der sich aufplusternde Gefängniswärter? Und wie können wir diesen von unserem gefangenen Seelenpiepmatz unterscheiden?

Die Seele wird als Vogel dargestellt, der mit gelähmten Flügeln im Käfig des persönlichen Egos sitzt.

Ich möchte diese Unterschiede und die sich daraus ergebenden Konsequenzen weniger als Probleme, sondern mehr als Notwendigkeiten darstellen. Warum es notwendig ist, die Seele wieder in den Fokus zu rücken:

  1. Ein anderer Blick auf Krankheit und Gesundheit

Für das selbstoptimierte Ego ist Krankheit der große Feind. Krankheit greift uns von außen an und wird daher auch nicht nach inneren Ursachen, sondern nach äußeren Symptomen untersucht und auch so behandelt. Ziel ist es, durch rund um die Uhr computerüberwachte Körperfunktionen Gesundheit dauerhaft zu erhalten bzw. durch sogenannte Gen-Scheren Krankheiten quasi schon in der Erbmasse zu ersticken.

Mit dem Blick auf die Seele jedoch integrieren wir die Krankheit als einen natürlichen Teil des Lebens. Krankheiten sind immer wieder ein Anstoß, um geduldiger und mitfühlender zu werden, auch um Prioritäten und Gewohnheiten zu hinterfragen und Veränderungen einzuleiten. Sie sind oft notwendige Reinigungsprozesse auf allen Ebenen und dienen der Aktivierung unserer Selbstheilungskräfte. In den Worten des großen Paracelsus: „Der Arzt verbindet deine Wunden. Dein innerer Arzt aber wird dich gesunden.“

  1. Ein anderer Blick auf Jugend und Alter

Selbstoptimierung ist auch ein ständiger Kampf gegen das Alter. Jugendliche Fitness, jugendliche Leistungsfähigkeit und jugendliches Aussehen fordern Arbeitgeber, Partner und auch der Einzelne von sich selbst. Eine ganze Fitness-, Wellness- und Kosmetikindustrie stehen bereit.

Mit dem Blick auf die Seele erfährt auch das Alter wieder seine Wertschätzung. Gerade durch das Abnehmen der körperlichen Triebe und das Ruhigerwerden des Gemüts können die höheren Seelenanteile leichter kultiviert werden und besser zum Vorschein gelangen. Narben und Falten sind Ausdruck äußerer und innerer Lebensproben, die das Seelische des Menschen in Form von Erfahrung und Lebensweisheit in den Vordergrund rücken. Es ist letztlich die Seele, die einem Menschen Schönheit und Charakter verleiht.

  1. Ein anderer Blick auf Leben und Tod

Die derzeitige Pandemie zeigt uns, wie sehr wir den Tod aus dem Leben verdrängt haben. Es wird mit der Angst vor dem Tod gearbeitet. Alles dreht sich um Todeszahlen, obwohl diese letztlich gering und kaum Übersterblichkeiten in den einzelnen Ländern gegeben sind. Insgesamt wird versucht, Leben um jeden Preis zu verlängern, denn der Tod gilt als das endgültige Ende des Lebens.

Mit dem Blick auf die Seele ist der Tod nichts anderes als ein Übergang in ein anderes Leben. Die Seele entledigt sich ihres Gefängnisses und wird frei. In fast allen Kulturen und Traditionen leben die Verstorbenen in einer eigenen – paradiesischen – Dimension, bevor sie neuerlich inkarnieren, um ihren Lebens- und Erfahrungsweg fortzusetzen.

  1. Ein anderer Blick auf die Zeit

Je mehr man nach außen orientiert ist, umso mehr beginnt man sich in der Fülle der Dinge zu verlieren. Es gibt immer noch etwas zu sehen, noch etwas zu erleben, noch etwas zu kaufen, noch etwas auszuprobieren, noch etwas zu optimieren. Damit ist man immer hinter etwas her und vor allem hinter der Zeit her, die einem ewig davonzulaufen scheint.

Mit dem Blick auf die Seele geht der Blick nach innen. Man verbindet sich mit dem Rhythmus des Lebens, mit Herzschlag und Atem. Man erlebt eine innere Fülle, weshalb man nichts von außen beschaffen muss, um in Wirklichkeit seine innere Leere zu befüllen. Da man hinter nichts her ist, dehnt sich die Zeit. Sie wird als ein Kontinuum erfahren, das immer ist, weshalb auch immer genug davon da ist.

Mit dem Blick auf die Seele nehme ich die Verbindung zu allem und jedem anderen wahr. Alles und jeder hat Anteil an derselben Seele, an demselben Leben.

  1. Ein anderer Blick auf Welt und Umwelt

Selbst-Behauptung ist immer eine Behauptung gegenüber jemandem anderen oder etwas anderem. In dieser Betrachtung steckt der Keim der Trennung, des Misstrauens und der Feindseligkeit. Wer weiß, was mein Chef wirklich vorhat, was mein Kollege wirklich im Schilde führt – ich muss mich behaupten. Letztlich muss sich der Mensch auch der Natur gegenüber behaupten. Die Natur mit all ihren Gewalten muss bezwungen werden. Als Herr über die Natur dürfen wir sie auch benutzen, wie wir es für unsere Selbst-Verwirklichung brauchen. Diese seelenlose Betrachtung und Behandlung der Natur ist die Basis aller ökologischen Probleme.

Mit dem Blick auf die Seele nehme ich die Verbindung zu allem und jedem anderen wahr. Alles und jeder hat Anteil an derselben Seele, an demselben Leben. Freude und Schmerz jedes anderen Wesens finden einen Widerhall in der eigenen Seele. Höflichkeit und Achtsamkeit werden zu einer selbstverständlichen Haltung.

  1. Ein anderer Blick auf Sinn und Entwicklung

Der selbstoptimierende Blick ist immer auch einer des Sich-Vergleichens. Wer ist „der Schönste im ganzen Land?“ Da die körperliche Optimierung ihre Grenzen hat, müssen Medizin und Technik weiterhelfen. Plastische Chirurgie ist der Anfang, Transhumanismus das Ende. Im Transhumanismus sollen mithilfe der Erweiterung des Menschen durch die Maschine „die gebrechlichen Körper mit all ihren Einschränkungen überwunden und der Mensch schließlich unsterblich werden“. Der Mensch nimmt seine Entwicklung aus der Unvollkommenheit in Angriff, indem er mit der Vollkommenheit der Maschine verschmilzt.

Mit dem Blick auf die Seele löst sich das Sich-Vergleichen in einem von- und miteinander Lernen auf. In der Seele wohnt ein natürlicher Drang, alles zu verbessern, zu veredeln und zu vervollkommnen. Damit ist der Seele auch der Lebenssinn innewohnend: Entwicklung. Es ist kein Utilitarismus „besser zu sein als“ oder „besser zu sein, um“, sondern ein natürliches Streben, die einst im Himmel geschauten und noch wage erinnerten reinen Ideen auf der Erde zu verwirklichen. Untrügliche Zeichen des Entwicklungsweges der Seele sind Liebe und Geduld – als Folge einer wahrhaftigen inneren Überzeugung: es wird eines Tages so sein.

  1. Ein anderer Blick auf die Bildung

Bildung heißt heute mehr denn je Selbstoptimierung. Suchte man bis vor Kurzem noch das Optimum für den Aufstieg auf der Erfolgs- und Karriereleiter, geht es heute um den persönlichen Wohlfühlfaktor, die Work-Life-Balance. Es ist ein regelrechter Kult um den eigenen Körper und das eigene Glück. Diese sinnentleerte und selbstbezogene Suche nach Spaß und Glück muss notgedrungen in einer Suchtspirale bzw. großer Frustration und/oder Depression enden.

Mit dem Blick auf die Seele löst sich die Bildung vom Nützlichkeitsdenken. Ausgebildet werden nicht nur nützliche Fertigkeiten, sondern vor allem der Charakter, der Mensch als solcher. Von jeher dienten dem Menschen dazu das Musische und das Künstlerische – Fächer, die aus den modernen Stundenplänen beinahe schon verschwunden sind. Musik und Kunst im Allgemeinen bringen unsere Seele zum Wachsen. Die wahre musisch-künstlerische Arbeit bringt unser lärmendes persönliches Ego zum Schweigen.

ID 146568329 © Nadiaforkosh | Dreamstime.com

 

Das Selbst ist immer berechnend und berechenbar, oberflächlich und egozentrisch. Die Seele jedoch ist unmittel- und unberechenbar lebendig, sie ist inniglich und gerade dadurch in Resonanz mit allem.

Wie wäre es, mehrmals am Tag in unserer Hektik innezuhalten und uns einfach nur dem Beobachten zu widmen. Kein Geräusch zu machen, nicht einmal mit unserem unentwegt plappernden Verstand, sondern reines Hören, Zuhören. Wer seine Seele solcherart öffnet, dem öffnet sich die Seele des Beobachteten und des Gehörten. Und wir beginnen Dinge wahrzunehmen, die dem persönlichen Ego verborgen bleiben. Ziel einer solchen Betrachtung und einer solchen Bildung ist es, Mensch zu werden. Ein Mensch, von dem man eines Tages sagen kann: „Eine Seele von Mensch!“

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