Ist diese Welt noch zu retten?
Erde – Gesellschaft – Mensch
D
Die Frage, ob diese Welt noch zu retten ist, beantworte ich mit einem klaren Nein. Warum aber sollen wir es trotzdem mit all unserer Kraft versuchen?
Keine Angst! Ich werde Ihnen hier nichts über den Klimawandel erzählen. Keine Details wie zum Beispiel, dass wir mit ungebremster Geschwindigkeit auf eine Erderwärmung von 2 Grad Celsius zurasen mit katastrophalen Auswirkungen auf die Ökosysteme unseres Planeten. Auch nicht, dass rund eine Million Tier- und Pflanzenarten akut vom Aussterben bedroht ist, dass die Hälfte aller Korallenriffe schon verschwunden ist, dass allein zwischen 2010 und 2015 32 Millionen Hektar Regenwald abgeholzt wurden, dass über 85 % der Feuchtgebiete der Erde nicht mehr existieren.
Keine Angst! Ich werde an dieser Stelle auch nicht über die massive Zunahme von Stress in unserer Gesellschaft reden. Schon gar nicht über deren Folgen wie steigende Gewaltbereitschaft oder die Verfünffachung von Krankheitstagen durch psychische Erkrankungen in den letzten 40 Jahren. Waren psychische Erkrankungen vor 20 Jahren beinahe bedeutungslos, sind sie heute zweithäufigste Diagnose bei Krankenständen (BKK Gesundheitsreport 2018). Und über die Auswirkungen von digitalen und den daraus resultierenden sozialen Medien zu urteilen, steht einem Digital Immigrant wie mir ohnehin nicht zu. Daher erspare ich mir den Kommentar, dass social nicht gleich sozial ist, wenn man beispielsweise anstatt mit Familie und Freunden zu kommunizieren, vermehrt ins Smartphone starrt, um sich mit virtuellen Freunden auszutauschen.
Ich möchte mich auch nicht über die Verarmung unserer Sprache oder das Vergessen von Umgangsformen aufregen oder dass jeder vierte Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren schon Bedrohung und Mobbing in den sozialen Netzwerken erfahren hat und jeder fünfte sexuelle Belästigung (Uni Leipzig, 2011).
Und schon gar nicht möchte ich mich zur neuen Aufrüstungsspirale äußern: Dass die USA, China, Russland usw. neue Atomwaffen bauen, dass die renommierte Organisation Bulletin of the Atomic Scientists ihre berüchtigte „Weltuntergangsuhr“, die das Risiko einer Atomkatastrophe anzeigen soll, bereits auf zwei Minuten vor 12 gestellt hat.
Also über all das will ich nicht reden. Nicht weil es mich nicht interessiert, sondern weil diese Daten bekannt sind, weil sie in zahlreichen Foren und Medien von namhaften Persönlichkeiten verbreitet und diskutiert werden. Vielmehr möchte ich zunächst mit Ihnen einige Gedanken über den Umgang mit diesen Daten und Fakten teilen. Daraus sollte folgen, warum diese Welt nicht zu retten ist. Und schließlich möchte ich auf die Frage des Anfangs zurückkommen: Wenn diese Welt nicht zu retten ist, warum sollen wir es trotzdem mit aller Kraft versuchen? Und wie sollen wir es versuchen?
Trump leugnet, Europa verhandelt, die Masse bewegt sich zwischen Wut und Depression.
Kennen Sie die fünf Phasen des Sterbens nach Elisabeth Kübler-Ross? Dieses Modell entwickelte die schweizerisch-US-amerikanische Psychiaterin aus unzähligen Gesprächen mit Sterbenden.
Die erste Phase besteht in der Verleugnung: Patient und Angehörige nehmen Befunde nicht ernst oder sprechen von Fehldiagnose.
Die zweite Phase wird von der Wut dominiert: Hier brechen Ärger und Ohnmacht angesichts der Ausweglosigkeit und Ungerechtigkeit in unkontrollierten Wutausbrüchen hervor. Die dritte Phase heißt Verhandeln: Der Sterbende erhofft sich eine längere Lebenszeit, indem er dafür zum Beispiel sein Leben Gott oder der Kirche widmet. In der vierten Phase kommt es zur Depression: Die Ängste und Verzweiflung erdrücken den Patienten regelrecht, machen ihn aber auch bereit für die fünfte und letzte Phase, die Akzeptanz: Der Patient nimmt sein Schicksal an und bereitet sich auf den bevorstehenden Tod vor.
Diese fünf Phasen lassen sich sehr gut auf den heutigen Schwerkranken namens Welt übertragen: Die US-Regierung unter ihrem Präsidenten Donald Trump ist in die Phase 1, die Verleugnung, zurückgekehrt. 2017 reichte die USA ihren Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen ein. Trump selbst leugnet den Klimawandel nicht nur, er macht sich regelmäßig darüber lustig. Im Jänner dieses Jahres, als eine Kaltfront in Teilen der USA für Temperaturen von unter -40 Grad sorgte, bat er in einem Tweet, die Erderwärmung möge doch zurückkommen. User auf Twitter machten sich dann ihrerseits über Trump lustig: „Könnte ihm mal bitte jemand den Unterschied zwischen Wetter und Klima erklären?“
Europa und der Großteil der Staaten der Welt dagegen verhandeln seit Jahrzehnten in den jährlichen UN-Klimakonferenzen. Heuer wird die 25. in Santiago de Chile ausgerichtet. Da wird um Grenzwerte gestritten und gefeilscht – 2018 musste die Erderwärmung von maximal 1,5 auf 2 Grad angehoben werden, um wenigstens einen Minimalkompromiss zu erzielen – da wird mit CO2-Zertifikaten gehandelt (ja, sie haben richtig gelesen!), und unter dem Strich liest man: „Die verabschiedeten Regeln sind kein „Muss“, sollen aber durch „Naming and Shaming“ („Nennen und Beschämen“) wirksam werden.“ Die Worte der mittlerweile in aller Munde befindlichen jungen Umweltaktivistin
Greta Thunberg bringen es auf den Punkt: „Wenn es unmöglich ist, Lösungen im bestehenden System zu finden, sollten wir das System an sich ändern.“ Den Verhandlern richtet sie aus: „Sie sind nicht erwachsen genug, um das so zu formulieren.“
Ausgehend von Frontfiguren wie Greta Thunberg formiert sich die Wut eines Teiles der Bevölkerung – in diesem Falle sind es Schüler und Studenten – in weltweit stattfindenden Demonstrationen. Der überwiegende Teil der Menschen hat jedoch längst resigniert. Um nicht der Depression angesichts der Weltsituation zu erliegen, flüchten sie in Zerstreuungen und Vergnügungen aller Art. Das Phänomen des Eskapismus, der Flucht vor der Realität bzw. Weltflucht mittels einer Zerstreuungs- und Vergnügungssucht, ist spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein eigener Begriff in der Psychologie.
Genau darum ist diese Welt nicht mehr zu retten!
Wenn die USA als mächtigster Staat der Welt, der mit China und Indien zusammen für über 50 % des weltweiten CO2-Ausstoßes sorgt, aus dem internationalen Klimaabkommen ausgetreten ist; wenn trotz jahrzehntelanger Klima-Verhandlungen zwischen den teilnehmenden Ländern die einzigen Veränderungen in der Erhöhung der Grenzwerte liegen; wenn führende Experten davon sprechen, dass die einzige Lösung in einer massiven weltweiten Reduktion des Energieverbrauchs und generell in einer Revolution unseres Lebensstils in Richtung Verzicht bestünde, aber genau das Gegenteil davon in der Praxis stattfindet (zum Beispiel verbrauchte die „Fantasie-Währung“ Bitcoin in ihren Serverfarmen 2016 in einem Jahr mehr als doppelt so viel Energie wie ganz Österreich – Tendenz steigend!), dann komme ich zum Schluss: Diese Welt ist nicht mehr zu retten.
Klarstellen möchte ich an dieser Stelle, dass ich mit dieser Welt unsere heutige Welt mit ihren globalisierten neoliberalen Werten meine. Dazu gehören u. a. die Finanzialisierung, die alle anderen Wirtschaftsbereiche unter die Logik der Finanzindustrie zwingt und die Unternehmensziele auf die Aktionärsinteressen reduziert. Dies führt zu einer massiven Umverteilung von Arbeit zu Kapital, was vereinfacht unter dem Strich bedeutet: Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher! Und:
Große Konzerne beherrschen zunehmend das politische Geschehen und haben unsere Demokratien längst ausgehöhlt.
Da reine Gewinnmaximierung einiger weniger Super-Reicher im Zentrum steht, spielen das ökologische Gleichgewicht unseres Planeten und das Gemeinwohl keinerlei Rolle.
Die Ironie an der Sache ist, dass der Neoliberalismus ursprünglich exakt diesem ungezügelten Liberalismus und Laizzes-Faire des 19. Jahrhunderts mit seinen Wirtschaftskrisen und der Verelendung der Arbeiter entgegenwirken wollte. Doch genau das Gegenteil ist geschehen. Nicht nur in der Wirtschaft. Auch die Werte unserer westlichen Gesellschaft gerieten unter dem ikonenhaften Begriff der Freiheit zu einer laizzes-faire-artigen Beliebigkeit: die Beliebigkeit der Geschlechterrollen, das Unterlassen erzieherischer Maßnahmen, die Aufhebung aller Unterschiede und Grenzen.
Wenn Schüler ihren Lehrer einkesseln, ihn gegen die Tafel stoßen, mit einer Trillerpfeife drangsalieren, ihn unter einem Tisch kauernd mit Papierkugeln bewerfen (wie kürzlich in einer HTL in Wien passiert), dann ist dies eine Überschreitung von Grenzen als Folge der Aufhebung aller Grenzen.
Im alten Rom in seiner dekadenten Schlussphase unterschied man zwischen libertas, einer Freiheit, die Grundwerte sowie eigene Pflichten und die Rechte des Nächsten respektiert, und licentia, einer zügellosen und rücksichtslosen Freiheit, die Solidarität und damit letztlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstört.
Diese Welt mit ihrem rücksichtslosen Gewinnstreben, ihrer unüberbrückbaren Kluft zwischen Arm und Reich, ihrer Beliebigkeit und ihrem Werteverlust sowie dem verlorenen gesellschaftlichen Miteinander – u. a. in der von Parteien provozierten Spaltung der Gesellschaften quer durch ganz Europa – ist nicht mehr zu retten. Umso mehr suchen und hoffen viele auf einen Retter, sei es ein religiöser, wirtschaftlicher oder politischer Guru. Doch Retter implizieren Opfer. Ein Unfallopfer beispielsweise braucht einen Retter. Genau aus dieser Opferrolle gilt es auszubrechen. Statt Ohnmacht, Ausgeliefertsein oder Weltflucht heißt es
Verantwortung übernehmen!
Denn dass diese Welt nicht zu retten ist, heißt noch lange nicht, dass die Welt als solche nicht zu retten ist. Vielmehr stellt sich die Frage: Braucht die Welt überhaupt einen Retter? Wenn unsere Erde ein großer lebendiger Organismus ist, dann stellt sie gemäß der sie regierenden Gesetzmäßigkeiten selbst wieder ihr Gleichgewicht her. Dieses Gesetz von Ursache und Wirkung wirkt unerbittlich. Wo der Mensch wider die Gesetze der Natur agiert, wird die Natur reagieren und – mitunter mit vom Menschen als Naturkatastrophen oder Kataklysmen bezeichneten Maßnahmen – das Gleichgewicht wiederherstellen.
Ganz ähnlich passiert es mit den Zivilisationen:
Wenn über einen langen Zeitraum gegen die Grundgesetze von Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Zusammenleben agiert wird, reagieren die gesellschaftlichen Abwehrkräfte.
Es kommt zu Parteienkämpfen, Revolutionen und Bürgerkriegen und schließlich zum Zerfall und Untergang einer Zivilisation. Die Zeit bis zum Entstehen einer neuen Zivilisation mit entsprechenden erneuerten und neuen Werten nennt man Mittelalter. Eine handfeste Krise und ein drohendes neues Mittelalter werden von Intellektuellen, darunter Umberto Eco, schon seit den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts vorhergesehen. Krise heißt bekanntlich Wandlung. Und die unzähligen Bewegungen und Initiativen, die sich in unserer Gesellschaft einem notwendigen Wandel verschrieben haben, geben nicht nur Anlass zu Hoffnung. Diese unter dem Begriff Transitions-Initiativen zusammengefassten Bewegungen zeigen, dass neue und bessere Formen von Leben und Zusammenleben schon längst experimentell existieren. Wer hindert uns, uns in einer Initiative für Flüchtlinge oder Obdachlose oder sonstige in Anstalten weggesperrte Menschen zu engagieren, anstatt ohnmächtig die sinkende Solidarität zu beklagen?
Wer hindert uns, aus dem Konsumwahn auszusteigen, Kaputtes reparieren zu lassen und insgesamt weniger zu brauchen, anstatt ohnmächtig in höher werdenden Müllbergen zu versinken?
Wer hindert uns, weniger Fleisch zu essen und dieses und auch andere Lebensmittel beim Biobauern zu kaufen, anstatt uns ohnmächtig über Tierfabriken und Pestizide schockiert zu zeigen? Wer hindert uns, auf privates Herumfliegen, auf Kreuzfahrten und wo möglich aufs Autofahren zu verzichten, anstatt uns ohnmächtig über den für alle spürbaren Klimawandel besorgt zu zeigen?
Sie, werte Leserin, werter Leser entscheiden sich: für ohnmächtiges Warten darauf, dass sich die Politik und die anderen endlich ändern; für eine Realitätsflucht in Zerstreuung und Vergnügen oder für das Übernehmen von Verantwortung durch eine Veränderung des Lebensstils. Verzicht und Selbstbeschränkung kosten. Letztlich aber kosten sie nur den unnötigen Ballast, wodurch wir freier und zufriedener werden. Die Rettung dieser Welt ist nicht möglich. Der Aufbau einer neuen und besseren sehr wohl.
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