Groß und mächtig – schicksalsträchtig
Wie Mythen unsere Welt gestalten
M
ythen, Legenden, Märchen und Sagen gehören einer vergangenen Zeit an. Sie sind überholte Formen der Welterklärung, die längst durch naturwissenschaftliches Wissen abgelöst worden sind. Könnte man meinen.
Mythen, Legenden, Märchen und Sagen gehören einer vergangenen Zeit an. Sie sind überholte Formen der Welterklärung, die längst durch naturwissenschaftliches Wissen abgelöst worden sind. Könnte man meinen.
Es wäre aber eine unzutreffende, ja sogar naive Annahme. Der Mythos bestimmt unser Denken und unsere Weltsicht, nach wie vor. Der Mythos steht einer kritischen Vernunft nicht gegenüber, er hat eine eigene Form der Rationalität, darum gebietet die Vernunft, sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Angenommen, ein Theologe präsentiert einem Quantenphysiker den Begriff „Gnade“. Damit ist ein im religiösen Umfeld zentraler Gedanke benannt: Jede Religion umschreibt, in welcher Deutung auch immer, das grundlegende Erstaunen über die Existenz des Lebens und der Welt, die in wenigen kostbaren Momenten zum Bewusstsein kommt. Leben ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eben „Gnade“, Geschenk, etwas Erstaunliches. Der Physiker, ausgehend von seinem eigenen Denkkontext, dürfte dazu sagen: „Gnade? Kenne ich nicht. Dafür gibt es keine physikalische Umschreibung.“ Nun sind zwei Folgerungen denkbar: Entweder sagt der Physiker: „Das gibt es nicht. Es ist in meinen Kategorien nicht beschreibbar, daher nicht existent.“ Oder er sagt: „An dieser Stelle muss ich einräumen, dass die Physik nur eine bestimmte Dimension der Wirklichkeit erfasst. Andere Dimensionen müssen deren Bild bereichern und ergänzen.“
So könnte man grob den Grundgedanken von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen umschreiben. Die geht davon aus, dass Mathematik, Physik, Musik, Religion, Wissenschaft, Kunst, Sprache … und eben auch der Mythos Formen der Weltbeschreibung sind, die ihre individuelle Gesetzmäßigkeit, Sichtweise, Logik und eben auch Berechtigung haben. Sie sind nicht untereinander ersetzbar.
Die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat dem Mythos eine immense Aufmerksamkeit gewidmet. Seit Heidegger, Cassirer, Benjamin und Wittgenstein ist es zu einer Art philosophischer Grundüberzeugung geworden, dass es keine objektive Beschreibung der Wirklichkeit gibt,. Vor allem in der Sprache zeigt sich, dass wir in vorgegebene Deutungszusammenhänge und „Sprachspiele“ verwickelt sind, die erklärungskräftig und voraussetzungsgebunden zugleich sind. Dasselbe gilt für den Mythos. Auch die Moderne hat ihre tiefsinnigen Mythen, die die Weltsicht der Menschen ebenso bedingen wie erschließen. Leszek Kolakowski hat in seinem Buch „Die Gegenwärtigkeit des Mythos“ daher von dessen „Leistungsfähigkeit“ gesprochen. Autoren wie Karl Kerényi oder Walter F. Otto haben die bleibende, weil psychisch tief verankerte Bedeutung der antiken Mythen untersucht, und Roland Barthes hat ein kleines, aber bedeutsames Buch über „Die Mythen des Alltags“ verfasst.
Man darf den Mythos daher nicht auf seine ursprüngliche Struktur der Göttererzählung einschränken, die die Entstehung der Welt oder die Herkunft und Bedeutung eines für Menschen wichtigen Ortes oder Zusammenhanges erklären will. So eine Erzählung ist z. B. die Vertreibung aus dem Paradies am Beginn des Alten Testaments. Hier wird jedoch keineswegs nur die Frage gestellt, woher die Welt kam, sondern es wird in zwei eindrucksvollen Bildern gegenübergestellt, wie unterschiedlich Menschen ihr Leben verstehen können. Für den einen ist es ein Paradies, für den anderen ein mühsames Ackerfeld. Das ist eine plastische, bis heute unmittelbar verständliche Bildsprache. Auf die Seite des Ackerfeldes gehört z. B. auch die Odyssee, die das Leben des Helden als einen Kampf gegen endlos scheinende Widerstände darstellt. Offenbar muss man schon ein „Held“ sein, wenn man mit dem Leben zurechtkommen will.
In solchen Mythen finden sich Menschen bis heute wieder. Sie sind oft viel aussagekräftiger und wirkmächtiger als rationale Analysen. Darum ist es auch kein Zufall, dass die Kunst bis heute auf solche Mythen zurückgreift.
Bereits die Antike ist dem Mythos gegenüber allerdings ambivalent eingestellt. So gibt es seit dem 6. Jahrhundert schon eine radikale Mythenkritik. Mythen gelten für einzelne griechische Denker immer wieder als lügenhaft und kindisch, als Ausgeburten der Fantasie. Gleichzeitig mit der Mythenkritik entstehen aber immer wieder neue Mythen, bisweilen beim kritischen Denker selbst. Platon z. B. teilt die kritische Sicht, erfindet jedoch selbst neue Mythen: etwa den der ursprünglichen Kugel (Einheit), aus der Mann und Frau hervorgegangen sind; was erklären soll, warum die beiden sich immer wieder zurücksehnen nach der ursprünglichen runden Ganzheit. Auch sein Höhlengleichnis ist zwar als Allegorie gedacht, trägt aber zumindest in seiner Wirkungsmächtigkeit deutlich mythische Züge.
Der Übergang der antiken Kultur der Griechen auf die Römer hat zu einer starken Aufwertung des Praktischen geführt – Rechtswesen, Architektur, Militär waren die Gebiete, auf denen die Römer zukunftsweisend waren. Der Mythos dagegen verblasst, parallel mit dem Niedergang von Kunst und Religion und der antiken Kultur insgesamt.
Das aufstrebende Christentum hat den Mythos abgelehnt und denunziert. Mythen galten nun als gefährliche Unwahrheiten. Dabei hat das Christentum selbst seine zentrale Idee in einen überzeitlichen Mythos gekleidet, der das Schicksal der Welt in eine alles überspannende Erzählung einpasst: Der Mensch hat zu Beginn der Zeit eine Sünde begangen, trägt daher eine Schuld vor Gott in sich. Diese Schuld wird durch Gottes gütiges Eingreifen gesühnt: Gott selbst geht in die Welt ein und tilgt mit seinem Tod am Kreuz die Sünden der Menschen in einer letztgültigen Opferhandlung. Wer das glaubt, wird im kommenden Gericht in die ewige Seligkeit eingehen.
Dieser christliche Zentralmythos, der über die Jahrhunderte eine unbedingte und vergewissernde Erklärungsmacht hatte, wird heute selbst von Traditionschristen kaum noch für nachvollziehbar gehalten. Hier scheint ein Grund für den massiven Bedeutungsverlust der christlichen Religion in der Moderne zu liegen: Mit dem „Ende der Metaerzählungen“ (Jean-F. Lyotard), dem Glaubwürdigkeitsschwund für übergreifende Geschichtsdeutungen, scheint der christliche Zentralmythos überholt, und mit ihm das Christentum. Das freilich wäre zu kurz gedacht. Denn nicht der Mythos ist überholt, sondern seine Form. Daher wäre weder eine rationale Auslegung religiös weiterführend, noch ein Abschied vom religiösen Mythos, sondern eher eine heute angemessene Art der symbolischen Erzählung seiner überzeitlichen Wahrheit.
Selbst die Aufklärung zeigt diese Ambivalenz. Einerseits ist sie die mythenkritische Zeit par excellence, andererseits zitiert sie an prominenter Stelle den antiken Mythos des Prometheus, der ihre zentrale Idee symbolisiert. Nichts scheint selbst für das kritische Denken so geeignet zu sein wie ein Mythos, um die eigene Bedeutung und Wirkungsmacht darzustellen. Herder, der die verschiedenen Mythologien der Völker untersucht hat, hat das schön formuliert: „Wir lachen die griechische Mythologie aus, und jeder macht sich vielleicht die seinige.“
In der späten Aufklärung, vollends dann in der Romantik, ändert sich die Einstellung zum Mythos immer mehr. Schelling sagt dazu: „Grundlage aller Kunst und Poesie ist die Mythologie.“ Ihm schwebt eine „Philosophie der Mythologie“ als Programm vor, und er geht sogar auf die Suche nach einer „neuen Mythologie“. Dasselbe Interesse kann man – jede Bewertung einmal beiseite- gestellt – auch in der Opernmythologie Richard Wagners sehen. Friedrich Nietzsche hat in weiterer Folge die größten Kräfte der von ihm bewunderten griechischen Antike in der Zeit von Mythos und Drama gesehen. Der Niedergang dieser großen Kultur beginnt für ihn mit dem rationalen Fragesteller Sokrates, mit Analyse und Wissenschaft. Aber auch für Nietzsche wirkt der „mythologische Trieb“ weiter. Wo die „Mythen bildende Kraft“ zu fehlen beginnt, da beginnt auch die Lebendigkeit des Menschen zu verblassen. Der Mythos gleicht dem Instinkt, der Voraussetzung für alle schöpferische Kraft ist, und damit Voraussetzung für Kultur und Leben überhaupt.
Beispiele für die bleibende Wirkungsmächtigkeit des Mythos in der Moderne lassen sich leicht aufspüren. Dem amerikanischen Traum der Besiedelung eines paradiesisch reich anmutenden Landes liegt der Mythos des Zugs nach Westen (Go West) zugrunde. Was im Morgenland mit der Geburt Christi begann, was sich Richtung Westen über Rom und Germanien hin fortsetzte, findet seine Vollendung westlich des Atlantiks und dann am westlichen Rand der USA, in Kalifornien, jedenfalls in „God´s own Country“. Oder: Der Untergang der Titanic ist nicht als Zeitungsmeldung in Erinnerung geblieben, sondern als die mythische Geschichte vom Erliegen der Zivilisation vor der stets größeren Natur. Anders ließe sich auch kaum erklären, warum dieses Ereignis inzwischen in mehr als 80 Kinoverfilmungen thematisiert wurde.
Welche Kraft, aber auch welche Ambivalenz dem Mythos zu eigen ist, lässt sich an der Blut-und-Boden-Mythologie des Nationalsozialismus zeigen. Hier sorgte der Mythos für eine neue emotionale Einbindung der Menschen und gab ihnen damit genau das, was sie in der Zeit der sozialen Entwurzelung weitgehend verloren hatten. Aber auch die mythenkritische, scheinbar so vernünftige Aufklärung selbst lässt sich in der Sicht Theodor W. Adornos als Mythos verstehen. Nicht nur „schlägt Aufklärung in Mythologie zurück“, sondern sie ist selbst Mythos: der der Aufklärbarkeit und rationalen Durchdringungsmöglichkeit der Wirklichkeit.
So ist der Mythos beides zugleich: Erklärungskraft und Verführung. Nicht die rationale Ersetzung des Mythos ist jedoch philosophisch sinnvoll, ebenso wenig wie es die Ersetzung der Religion durch Naturwissenschaft wäre, sondern nur eine heute angemessene erzählende Symbolik. Auch die Naturwissenschaft muss im Bereich der Quantentheorie in mythisch anmutende Bilder übergehen, wenn sie nicht stumm bleiben will.
Eine besondere Note hatte in den 40er-Jahren die Debatte um die sogenannte „Entmythologisierung“ biblischer Texte. Rudolf Bultmann, Neutestamentler aus Marburg, hatte eine kritische Auseinandersetzung mit mythischen Elementen gefordert, die den Gemeinden nach wie vor als nicht hinterfragte Realitäten präsentiert wurden. In einer Zeit, in der man ganz selbstverständlich Radios benutze und moderne Medizinpraktiziere, könne man nicht mehr an die Dämonen und Wunder biblischer Texte glauben. Der Begriff Entmythologisierung ist allerdings missverständlich, denn Bultmann wollte keine Streichung des Mythos, sondern seine existenzielle Erklärung: eine Forderung, die der Leistungsfähigkeit des Mythos durchaus angemessen ist. Dass es bis heute nicht zur Einlösung dieser Forderung gekommen ist, dass biblische Mythen zwar in aller Regel lebensweltlich übersetzt, aber eben nicht explizit als Mythen benannt werden, macht einen der tieferen Gründe für den Bedeutungsverlust der christlichen Kultur aus. Sie wirkt zunehmend traditionalistisch verschlossen.
Welche Wirkungskraft Mythen haben können, zeigt auch der Theologe Samuel Laeuchli. Im „mythischen Spiel“ lässt er Menschen die Rolle mythischer Figuren übernehmen. Dabei kommt es immer wieder zu erstaunlichen Selbstklärungen und interessanterweise auch dazu, dass die Struktur des Mythos sich wieder neu bildet – selbst dann, wenn sie den Protagonisten des Spiels kaum bekannt ist. Der Mensch ist bei allem, was man sonst noch über ihn sagen kann, offenbar ein mythenaffines Wesen.
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