Was ist das Gehirn?
– Computer oder Funkgerät
WWie entsteht Bewusstsein? Wird es vom Gehirn erzeugt oder „bloß“ empfangen? Dies ist nach wie vor ein großes Rätsel. Die Antwort darauf kann unser Weltbild revolutionieren …
Die Wissenschaften der Psychologie, der Neurologie und auch der Philosophie versuchen, das Bewusstsein zu lokalisieren. Zur Erklärung des Bewusstseins gibt es zwei grundsätzliche Hypothesen hinsichtlich der Funktion des Gehirns. Die gängigste Hypothese sieht das Gehirn als eine Art Computer, also als ein Rechenwerk, das über einen großen Speicher für alle komplexen Informationen, die der Körper verarbeitet, verfügt. Diese „Produktionshypothese“ besagt, dass das Gehirn das Bewusstsein erschafft. Sie kann aber nicht alle Phänomene des Bewusstseins hinlänglich erklären. Als Alternative gibt es die „Transmissionshypothese“, die das Gehirn als eine Art Funkgerät versteht.
Als ein Beispiel für die vielen Phänomene, die mit der Produktionshypothese nicht befriedigend erklärt werden können, möchte ich einen Fall von „terminaler Geistesklarheit“ vorstellen. Dies sind Fälle von Menschen mit völlig eingeschränktem Bewusstsein und in vielen Fällen auch mit nachgewiesen geschädigtem Gehirn, wo klare lichte Momente präfinal auftreten. Rätselhaft ist dabei nicht nur das Auftreten dieser Momente, sondern auch warum sich diese gerade kurz vor dem Tod ereignen.
Das Beispiel von Käthe ist ein eindrucksvoller und berührender Fall. Käthe, geboren am 30.5.1895, hatte im Alter von sechs Wochen lang andauernde Krämpfe und lernte erst mit 2,5 Jahren gehen. Mit sechs Jahren, am 17.6.1901, kam sie in die Heil- und Pflegeanstalt Hephata in Treysa in Hessen (D) und verbrachte dort ihr gesamtes weiteres Leben bis zu ihrem Tod am 1.3.1922. Der damalige Anstaltsleiter Dr. Friedrich Happich (1883 – 1951) schrieb:
„Käthe war von Geburt völlig verblödet und hat nie ein Wort sprechen gelernt. Stundenlang starrte sie auf einen Punkt, dann zappelte sie wieder stundenlang ohne Unterbrechung. Sie schlang Nahrung hinunter, schied das Aufgenommene wieder aus, stieß einen tierischen Laut aus und schlief. Andere Lebensregungen haben wir in den langen Jahren von ihr nie wahrgenommen. Nie haben wir bemerkt, dass sie auch nur eine Sekunde an dem Leben ihrer Umgebung teilnahm. Auch körperlich wurde das Mädchen immer elender; ein Bein musste ihr abgenommen werden, und das Siechtum wurde immer stärker.“
Am Morgen des 1.3.1922 sagte eine Schwester zum Oberarzt, dass es mit Käthe wohl bald vorbei sein würde, denn sie sänge schon eine Zeit lang vor sich hin. In derartigen Anstalten ist bekannt, dass auffällig anderes Benehmen ein Zeichen für sein nahes Ende sei.
Dr. Happich kommentierte:
„Als wir gemeinsam das Sterbezimmer betraten, trauten wir unseren Augen und Ohren nicht: Die von Geburt an völlig verblödete Käthe sang sich selbst die Sterbelieder. ‚Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh? Ruh, Ruh, himmlische Ruh!‘ Eine halbe Stunde lang sang Käthe. Ihr Gesicht war vergeistigt und verklärt. Dann schlief sie still ein. Immer wieder sagte der Arzt, dem ebenso wie der pflegenden Schwester die Tränen in den Augen standen: ‚Medizinisch stehe ich völlig vor einem Rätsel. Durch eine Sektion kann ich, wenn es verlangt wird, nachweisen, dass Käthes Hirnrinde restlos zerstört und anatomisch Denkfähigkeit nicht mehr möglich war.‘“
„Käthe hatte also nur scheinbar an alledem, was in der Umgebung vor sich ging, nicht teilgenommen. In Wirklichkeit hatte sie aber sichtlich gar manches in sich aufgenommen. Denn woher hatte sie Text und Melodie des Liedes, wenn nicht aus der Umgebung? Und sie hatte den Inhalt des Liedes richtig verstanden und wandte ihn in der entscheidenden Stunde ihres Lebens an. Das war schon wie ein Wunder. Noch größer erschien uns das Wunder, dass die bis dahin völlig stumme Käthe plötzlich klar und deutlich Worte des Liedes wiedergeben konnte, obwohl durch zahlreiche Hirnhautentzündungen solche anatomischen Veränderungen in der Hirnrinde vor sich gegangen sind, dass es dem Verstand nicht begreiflich ist, dass das sterbende Mädchen plötzlich klar und deutlich und mit Verständnis singen kann.“
Das Phänomen der terminalen Geistesklarheit ist zwar schon seit der Antike mehrfach erwähnt, wird aber erst seit kurzer Zeit untersucht. Von Brayne, Lovelace und Fenwick wurde 2008 eine Untersuchung vorgestellt, in der das Pflegepersonal von Hospizen hinsichtlich ungewöhnlicher Phänomene in Todesnähe befragt wurde. Michael Nahm hat 2012 ein erstes umfangreiches Werk über die Phänomene in Todesnähe und im Speziellen die terminale Geistesklarheit veröffentlicht.
Es ist sehr beachtenswert, bei wie vielen organischen Gehirnerkrankungen terminale Geistesklarheit auftreten kann. Es gibt Fälle von Hirnhautentzündung, massiver Gehirnvereiterung, abnormer Füllung von Gehirnpartien mit Wasser und Blut, Schlaganfälle, Gehirnzersetzung durch Tumore, Fälle von Demenz wie der Alzheimerkrankheit. Es gibt auch Fälle von psychischen Erkrankungen, bei denen das Gehirn kaum verändert wird, wie z.B. bei der Schizophrenie. Bei vielen dieser Krankheiten ist es nach dem herkömmlichen Verständnis der Funktionen des Gehirns ausgeschlossen, dass der Mensch je wieder zu einer Geistesklarheit kommen könnte. Und doch leuchtet der ursprüngliche Geist kurz vor dem Tode wieder vollständig auf.
Oskar Bloch, ein Professor für Chirurgie in Kopenhagen, formulierte diese Unerklärlichkeit 1909 so:
„Man wusste längst, dass Geisteskranke Perioden haben können, in denen sie ganz gesund sind. … Wenn so ein Geisteskranker in seiner klaren Periode stirbt, so stirbt er ganz so wie ein Geistesgesunder. Wenn aber der, welcher seit Jahren geisteskrank ist, der teilnahmslos dasaß, als ob die Welt für ihn nicht vorhanden sei, der mehr wie ein Tier als wie ein Mensch lebte, ja, der nicht einmal in Bezug auf Intelligenz so hoch wie ein Tier stand, wenn der plötzlich Zeichen von Vernunft zeigt – und dies geschieht kurz bevor er stirbt – muss man mit Recht staunen.“
Terminale Geistesklarheit wurde von den Alten oft „das letzte Aufflackern der Seele“ genannt. Man könnte es aber genauso als ein Zeichen für die Befreiung der Seele aus dem in solchen Fällen wahrlichen „Kerker“ ansehen.
Da das Hirn in wiederholten Fällen terminaler Geistesklarheit in relevanten Gehirnstrukturen weitgehend oder ganz zerstört gefunden wurde, erscheint die immer wieder genannte, biochemische Erklärung, dass kurz vor dem Tod ausgeschüttete Endorphine – diese können bekanntlich Glücksgefühle auslösen – für die terminale Geistesklarheit verantwortlich „sein könnten“, völlig unzureichend. An dem exemplarischen Fall „Käthe“ ist leicht zu erkennen, dass die Hypothese, das Bewusstsein würde vom Gehirn hervorgebracht und wäre nichts anderes als das Produkt der Komplexität des Nervensystems, diesen Fall nicht befriedigend oder besser gesagt gar nicht erklären kann. Und diese Unerklärbarkeit durch das „Computermodell“ des Gehirns verbindet diesen Fall der terminalen Geistesklarheit mit vielen anderen Phänomenen wie außerkörperliche Erfahrungen, Inselbegabungen, Spontanheilungen, Gedankenübertragung und anderen.
Als Alternative gibt es die heute wenig bekannte „Transmissions- oder Übertragungshypothese“. Schon Immanuel Kant hatte darauf aufmerksam gemacht, dass sich alle beobachtbaren Bewusstseinsphänomene mindestens genauso gut – wenn nicht besser – erklären lassen, wenn angenommen wird, dass das Gehirn nicht das Bewusstsein erzeugt, sondern stattdessen nur wie ein Überträger wirkt. Heute repräsentiert diese Funktionen das Funkgerät am besten wieder. Diese Hypothese setzt aber auch eine über den physischen Körper hinausgehende Wesenheit voraus, die wir als Seele oder Geist bezeichnen können.
William James (1842 – 1910), der amerikanische Psychologe und Philosoph, Frederic W. H. Myers (1843 – 1901), der englische Dichter und Parapsychologe, und Henri Bergson (1859 – 1941), französischer Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur, haben zahlreiche Belege dafür vorgelegt, dass das Bewusstsein sich vom physischen Körper trennen kann, und es eine nachtodliche Kontinuität des Bewusstseins gibt.
Diese Thesen sind in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts nahezu ganz in Vergessenheit geraten. Diese Zeit war geprägt von den plakativen Thesen Friedrich Nietzsches und Bertrand Russels und von Materialismus und Positivismus.
In neuerer Zeit machte John Searle (*1932), einer der renommiertesten Gegenwartsphilosophen, im Jahre 2004 darauf aufmerksam, dass „der Materialismus“ „in einem gewissen Sinn die Religion unserer Zeit“ ist, zumindest für die meisten „professionellen Experten“, die „auf den Gebieten der Philosophie, Psychologie, Bewusstseinsforschung und anderen Disziplinen“ tätig sind, die sich mit der Erforschung des Geistes („mind“) befassen. Der Materialismus wird von diesen Experten „akzeptiert, ohne ihn zu hinterfragen und er bildet den Rahmen, innerhalb dessen andere Fragen gestellt, angesprochen und beantwortet werden“.
Wenn wir nun die Transmissionshypothese auf den oben geschilderten Fall Käthe anwenden, dann erscheint Übertragung zumindest in eine Richtung gestört. Die terminale Geistesklarheit zeigt, dass die Umweltinformationen in Form des Liedes offensichtlich aufgenommen wurden. Ein übergeordnetes Bewusstsein hat möglicherweise alles „mitbekommen“, aber die Verbindung zur Steuerung des Körpers war gestört. Kurz vor dem Tod, war zumindest eine teilweise Verbindung da, sodass Käthe diesem Moment „würdevoll“ entgegentrat.
Wir stehen nun vor der seltsamen Situation, dass das derzeitige Paradigma zur Frage des Bewusstseins, die Produktionshypothese, viele Phänomene des Bewusstseins nicht befriedigend erklären kann und gleichzeitig wird die diese Themen viele besser abdeckende Transmissionshypothese ignoriert. Aber eine breite Annahme der Transmissionshypothese wäre mit einer Revolution des Weltbildes verbunden. Sie würde alle Lebensbereiche betreffen und mit einem umfassenden gesellschaftlichen Wandel verbunden sein.
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